Brüssel
Europa hat gewählt – und nun?
Plenarsaal des Europäischen Parlaments
Das Europaparlament wird nach dieser Wahl um 15 Abgeordnete anwachsen – 720 Vertreter der Mitgliedstaaten werden in den kommenden fünf Jahren Europa auf Kurs halten.
Hatim Kaghat. picture alliance/dpa/belga

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union haben entschieden, wer in Europa in den nächsten fünf Jahren wie viel Einfluss haben soll. Die Würfel sind also gefallen. Doch das Spiel beginnt erst. Was nun in Brüssel folgt, um Wählerstimmen in Verantwortung zu verwandeln.

Mit dieser Wahl ist das Europaparlament von zuletzt 705 auf 720 Abgeordnete gewachsen. Doch für die 15 zusätzlichen Mandatsträger schnell geeignete Büroräume zu finden, ist die leichteste Übung: Nach der letzten Wahl vor fünf Jahren war das Parlament noch mit 751 Abgeordneten an den Start gegangen – vor dem Brexit und dem Auszug der britischen Kollegen. Doch wie nun nach dem Votum der Wähler die Machtverhältnisse im Detail aussehen, wird sich erst im nächsten Monat zeigen. Und was das für die Besetzung der Topjobs in Brüssel und Straßburg bedeutet.

Dass die Fraktionsstärke vom Anfang einer Wahlperiode nicht der am Ende entsprechen muss, haben in Deutschland die Linken erlebt, als sie nach der Abspaltung der Wagenknecht-Truppe sogar den Fraktionsstatus verloren. Nun ist das neue Wagenknecht-Bündnis auch ins Europaparlament eingezogen – aber welcher Fraktion es sich hier anschließen will, ist noch nicht geklärt. Werden Linke und BSW in Deutschland getrennt und in Europa gemeinsam auftreten wollen?

Was macht der rechte Rand?

Noch größer ist die Ungewissheit am rechten Rand. Der ist enorm gewachsen, und schon vor dem Schließen der Wahllokale zeigte sich Marine Le Pen geneigt, mit Italiens Giorgia Meloni ein spektakulär großes Bündnis der Euro-Skeptiker zu schmieden. Wenn die bisherigen ID-Parteien von Le Pen mit den bisherigen EKR-Parteien von Meloni tatsächlich die Kooperation in einer gemeinsamen Fraktion hinbekämen, würden sie in Brüssel eine der stärksten Kräfte formen. Aber nur theoretisch. Denn mit jeder ultrarechten Rede eines Europa-Gegners würde Le Pen mit ihrem Kalkül stolpern, sich als bürgerlich-gemäßigte Politikerin die französischen Präsidentschaftswahlen 2027 sichern zu können. Sie ist deshalb in Frankreich bereits demonstrativ auf Distanz zu Putins Narrativen im Krieg gegen die Ukraine gegangen, so wie Meloni in Italien.

Insofern dürften schon einmal alle Parteien vom rechten Rand nicht Teil eines solchen rechtspopulistischen Konstruktes sein, die auf Putin-Kurs fahren – von der AfD in Deutschland bis zur Fidesz in Ungarn. Zudem haben schon einige andere rechtspopulistische Parteien erklärt, keiner Fraktion angehören zu wollen, die auch die Orban-Abgeordneten aus Ungarn aufnimmt. Das macht das Szenario eines schlagkräftigen Blocks erstarkter Nationalisten umgehend deutlich weniger bedrohlich.

Kleine Parteien als Zünglein an der Waage

Auf der anderen Seite ist die Stärke der Fraktionen aus der demokratischen Mitte ebenfalls noch nicht in Stein gemeißelt. Viele erfolgreiche Bewerber aus kleinen Parteien werden in den nächsten Tagen abwägen, wem sie sich anschließen sollen. Die Hürde von mindestens 23 Abgeordneten aus wenigstens sieben Mitgliedsländern schaffen die wenigsten – selbst wenn sie sich mit anderen kleinen Parteien mit ähnlichen Programmen zusammentun. Natürlich kann jeder Abgeordnete auch fraktionslos bleiben, doch dann hat er für seine Arbeit weniger Mitarbeiter, weniger Mittel und weniger Redezeit.

So dürften sowohl bei den Christdemokraten und Sozialdemokraten als auch bei Liberalen und Grünen in den nächsten Tagen die Mitgliedszahlen noch wachsen. Das ist letztlich auch wichtig dafür, wer wie viele einflussreiche Positionen im neuen Parlament beanspruchen kann. Je größter die Fraktion, deshalb mehr Punkte werden jeder Fraktion gutgeschrieben. Die kann sie dann einsetzen, um bei einzelnen Dossiers die Federführung einem Politiker aus den eigenen Reihen zu verschaffen. Vom endgültigen Kräfteverhältnis der Fraktionen hängt auch ab, für wie viele Ausschussvorsitze und wie viele Vizepräsidenten sie jeweils das Vorschlagsrecht haben.

Für Ursula von der Leyen wird es spannend

Am spannendsten bleibt es für Ursula von der Leyen. Bereits in einer Woche dinieren die Staats- und Regierungschefs in Brüssel zusammen, um sich informell darüber auszutauschen, wer welche Spitzenposition bekommen könnte. Von der Leyen muss vom Europäischen Rat offiziell vorgeschlagen werden. Das könnte bereits beim offiziellen Gipfel am 27./28. Juni erfolgen. Im Parlament braucht sie dann aber eine Mehrheit der gewählten Abgeordneten, also 361. Da nicht alle der Fraktionslinie folgen, benötigt sie mehr Rückhalt, als Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale zusammen an Sitzen zusammenbringen. Sie wird also nach der Konstituierung des neuen Parlamentes Mitte Juli in Straßburg durch die Fraktionen touren und viele Wünsche und Bedingungen zu hören bekommen.

Noch ist für Freitag, 19. Juli, ein Slot reserviert für die Wahl der neuen Kommissionspräsidentin. Bei unklaren Mehrheitsverhältnissen kann es damit aber auch September werden – wenn es dann allmählich auch zum „Grillen“ derjenigen kommt, die Kommissare werden wollen. Dafür kann jede nationale Regierung einen Bewerber benennen. Aber der muss sich ebenfalls vom Parlament auf Herz und Nieren prüfen lassen.

Bis alles steht, wird sich der Herbst über Europa gelegt haben. Auch für die Entscheidung des Europäischen Gipfels über die eigene Ratspräsidentschaft wird es dann Zeit: Am 1. Dezember brauchen sie einen Nachfolger für den derzeitigen Amtsinhaber Charles Michel.

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