Kiel
"Tatort" mit aktuellem Thema: Borowski und die Lockrufe des IS

Verständnislose Blicke: Die deutsche Konvertitin Julia will nach Syrien reisen, um dort einen IS-Kämpfer zu heiraten. Kommissar Klaus Borowski und seine Kollegin Sarah Brandt versuchen herauszufinden, welche Rolle die 17-Jährige bei der Ermordung ihrer Freundin Maria spielte. Foto: ARD

NDR/Christine Sc

Kiel. Es ist immer ein großes Risiko, wenn die "Tatort"-Macher ein hoch aktuelles Thema aufgreifen. Schon während der Ausstrahlung beginnen viele Kritiker mit dem Plausibilitätscheck. Bei rein fiktionalen Fällen mag dies oft übertrieben wirken. Doch bei eher dokumentarischen Krimis gelten für viele Zuschauer strengere Maßstäbe. Auch der aktuelle Kieler "Tatort"-Krimi "Borowski und das verlorene Mädchen" ist eine Gratwanderung, die meist gelingt, aber auch zum Teil scheitert.

Redakteur Christian Kunst hat sich den neuen „Tatort“ angesehen. Sein Urteil: Starke Studie über die Radikalisierung junger Deutscher, aber ein eher schwacher Krimi

Zentrale Figur des Films ist die 17-jährige Julia Heidhäuser, beeindruckend gespielt von Mala Emde. Die Kieler Schülerin ist zum Islam konvertiert und will nach Syrien, um dort einen IS-Kämpfer zu heiraten, den sie nur vom Skypen kennt. Ihre muslimische Freundin Amina Jaschar will sie dort hinbringen. Julia geht eines Tages zur Polizei und bezichtigt ihren Bruder des Mordes an ihrer Mitschülerin Maria. Zunächst glauben Klaus Borowski (Axel Milberg) und seine Kollegin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) ihr nicht. Doch dann wird am nächsten Morgen tatsächlich Marias Leiche aus der Kieler Förde geborgen. Ist der Bruder tatsächlich der Mörder, oder hat Julia ihn nur der Tat bezichtigt, weil sie mit ihrer Familie gebrochen hat?

Bei der Suche nach der Wahrheit tauchen die Kommissare und die Zuschauer tief in die Gefühlswelt einer sich nicht verstanden fühlenden, Halt suchenden Jugendlichen ein, die im Islam ihr Heil finden möchte. Der Film beginnt bereits mit eingeblendeten, roten Sätzen wie “Du bist der einzige Gott„ oder “Ich habe Schuld auf mich geladen„. Als Julia durch das Kieler Rotlichtviertel geht, monologisiert sie: “Ich werde einen Gott finden, der meine Wunden heilt.„ Eine Wunde ist, dass ihr Vater bei einem Autounfall starb, bei dem ihre Mutter am Steuer saß. Das hat Julias Verhältnis zu ihrer Mutter zerstört. Dann wird auch noch Julias geliebte Freundin Amina getötet. Ist die 17-Jährige womöglich selbst die Mörderin?

Dieser “Tatort„ zeigt auf eindrückliche Weise, wie der Islamische Staat (IS) ähnlich wie die Sektenführer der 1980er-Jahre die persönlichen Krisen deutscher Teenager für seine tödlichen Pläne ausbeutet. Und hier ist der Film nah an der Realität. “In Deutschland sind etwa 9000 Salafisten aktiv„, sagt Marwam Abou Taam, Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte beim Landeskriminalamt Rheinland Pfalz. Er hat das “Tatort„-Team fachlich beraten. Knapp 900 Personen sind laut Taam aus Deutschland ausgereist, davon um die 180 Frauen. Der Film demonstriert auch, wie Salafisten in Moscheen mit scharfen ideologischen Reden Mitstreiter unter den Muslimen finden, zugleich aber auch auf heftigen Widerstand stoßen. Die Welt ist eben nicht eindimensional. Eindrucksvoll ist auch, wie die verschleierte Julia beim Gang durch Kiel angefeindet und sogar bespuckt wird. Das sind starke Szenen, die eine Radikalisierung nachvollziehbar machen.

Doch dieser Film hat auch Schwächen. Dass sich eine Konvertitin ausgerechnet in ihre muslimische Freundin verliebt, mag ja Teil einer komplizierten Realität sein, ist dann aber doch ein wenig zu viel Gefühlschaos auf einmal. Und der eigentliche Mordfall gerät zunehmend in den Hintergrund, er entwickelt sich zu einer ähnlichen Parallelwelt wie die der zum Islam konvertierten Julia. So akribisch die “Tatort"-Macher die Welt der Islamisten recherchiert haben – so banal gerät am Ende die Auflösung dieses Falls.

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