Was sind frühe Anzeichen eines Typ-2-Diabetes? Wann sollte ich zum Arzt gehen?
Dr. med. Marcel Kaiser: Weil beim Typ-2-Diabetes – früher Altersdiabetes genannt – die Blutzuckerwerte über Jahre nur langsam ansteigen, bestehen zunächst einmal keine oder nur geringe Beschwerden. So bleibt die Krankheit oft lange unentdeckt und es geht wertvolle Zeit verloren, um mögliche Folgerisiken zu senken. Dennoch gibt es frühe Hinweise, zum Beispiel trockene Haut, häufiges Wasserlassen, eine verminderte Leistungsfähigkeit, häufige Haut- oder Harnwegsinfektionen oder Wundheilungsstörungen. Oft wird die Diagnose jedoch erst im Zusammenhang mit einem Herzinfarkt oder Schlaganfall gestellt. Deshalb gilt: Machen Sie alle zwei Jahre einen Gesundheitscheck und weisen Sie den Arzt gezielt auf die Bestimmung des Langzeitblutzuckerwerts HbA1c hin.
Ab wann besteht ein Risiko für Folgeerkrankungen?
Dr. med. Martina Lange: In der Regel treten diabetesspezifische Folgeerkrankungen erst nach vielen Jahren Diabetesdauer auf. Entscheidend ist, es gar nicht so weit kommen zu lassen, denn die Entwicklung ist meist schleichend, die Folgen oft gravierend und nur schwer behandelbar. Die beste Vorbeugung gegen Folgeerkrankungen ist und bleibt eine möglichst optimale Blutzuckereinstellung von Beginn an.
Wie kann ich das Risiko für Folgeerkrankungen über Ernährung und Bewegung beeinflussen?
Dr. med. Eva-Maria Fach: Mit gesunder Ernährung und Bewegung können Sie das Entstehen eines Typ-2-Diabetes oft sogar verhindern oder sein Auftreten zumindest verzögern. Beides sorgt dafür, dass Sie ein normales Körpergewicht halten oder Sie leichter abnehmen können. Gesunde Ernährung reduziert das Entstehen von hormonaktivem Bauchfett, das die Blutgefäße schädigen kann – und damit das Risiko von Folgeerkrankungen. Konkret sollten Sie bei der Ernährung auf komplexe Kohlenhydrate und Ballaststoffe achten und Fett reduzieren. Zusätzlich profitieren Ihre Gefäße von Bewegung. Es muss kein anspruchsvolles Sportprogramm sein – auf die Beständigkeit kommt es an! Regelmäßiges Spazierengehen, Gartenarbeit und Treppensteigen bringen schon eine Menge!
Kann ich den Erfolg der Behandlung „ablesen“?
Dr. med. Ralph Achim Bierwirth: Bei kaum einer anderen chronischen Erkrankung ist die Therapiequalität so gut „ablesbar“ wie bei der Zuckerkrankheit. Der entscheidende Indikator ist der HbA1c-Wert, der den Blutzuckerverlauf über einen längeren Zeitraum wiedergibt. Er liefert uns alle 10 bis 12 Wochen ein genaues Bild davon, ob die Therapie greift oder Risiken von der Blutzuckereinstellung ausgehen und die Therapie angepasst werden sollte. Der spontane Blutzuckerwert, zum Beispiel bei täglichen Kontrollmessungen, ist für solche Aussagen wegen der starken Schwankungen ungeeignet. Zusätzlich können Kontrolluntersuchungen kleiner und großer Blutgefäße Hinweise auf den Erfolg der Behandlung liefern.
Welche Rolle spielt der Langzeitblutzuckerwert bei der Therapie?
Dr. med. Ralph Achim Bierwirth: Er ist im Sinne eines Zielwerts direkt relevant für die Therapie und sollte immer individuell zwischen Arzt und Patient vereinbart werden. Für die meisten Patienten liegt das Therapieziel zwischen 6,5 und 7,5 Prozent. Bei jüngeren Diabetikern gilt es mit Blick auf eine hohe Lebenserwartung, den HbA1c so niedrig wie möglich zu halten. Bei längerer Diabetesdauer und höherem Alter wird ein etwas höherer Zielwert vereinbart. Der Grund: Nach längerer Erkrankung müssen stärkere Medikamente eingesetzt werden, die jedoch das Risiko der Gewichtszunahme und einer höheren Unterzuckerungsgefahr bergen. Um diese Therapiekomplikationen zu vermeiden, akzeptiert man einen höheren HbA1c. Zusätzlich spielen beim älteren Diabetiker oft die Blutdrucksenkung und die Kontrolle der Cholesterinwerte eine wichtige Rolle bei der Verhütung von Folgeerkrankungen.
Soll ich auch meinen Blutdruck regelmäßig selbst messen?
Dr. med. Eva-Maria Fach: Bei einem Typ-2-Diabetes sollte der Blutdruck vierteljährlich beim Arzt kontrolliert werden. Wenn Ihr Blutdruck schwer einzustellen ist oder stark schwankt, sollten Sie auch zu Hause messen. Dabei ist es wichtig, vor der Messung für fünf Minuten sitzend zur Ruhe zu kommen – das gilt übrigens auch für die Messung beim Arzt. Schreiben Sie Ihre Werte zu Hause auf und nehmen Sie die Notizen zu Ihrem nächsten Arztbesuch mit.
Was kann ich konkret gegen ein diabetisches Fußsyndrom tun?
Dr. med. Martina Lange: Kümmern Sie sich intensiv um Ihre Füße, denn hier ist Vorbeugung besonders wichtig. Kontrollieren Sie Ihre Füße regelmäßig auf Druckstellen, Verfärbungen und kleine Wunden, achten Sie auf Schuhe, die nicht drücken und tragen Sie Strümpfe ohne einengendes Bündchen. Verwenden Sie zur Fußpflege nur Instrumente, die den Fuß nicht verletzen: keine Hornhauthobel, keine Nagelknipser! Wenn Sie Ihre Füße selbst nicht pflegen können, nehmen Sie regelmäßig eine professionelle Fußpflege in Anspruch. Ganz wichtig: Lassen Sie Ihre Füße regelmäßig bei dem Arzt untersuchen, bei dem Sie im Disease Management Program (DMP) eingeschrieben sind. Und auch bei kleinen Wunden, die schlecht heilen gilt: Unbedingt zum Arzt gehen!
Was sind Anzeichen für eine Netzhauterkrankung und wie hoch ist die Gefahr zu erblinden?
Dr. med. Marcel Kaiser: Von einer Netzhauterkrankung merken Betroffene lange gar nichts und Sehstörungen treten erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium auf. Menschen mit einem Typ-2-Diabetes sollten deshalb einmal im Jahr eine Kontrolluntersuchung beim Augenarzt machen lassen, damit Veränderungen in einem frühen Stadium behandelt werden können. Geschieht das nicht, kann es zu einer Einblutung in die Netzhaut oder den Glaskörper des Auges mit plötzlicher Sehminderung, Schatten oder schwarzen Punkten im Sehfeld kommen. Die Gefahr einer Erblindung besteht tatsächlich und einmal aufgetretene Schäden lassen sich nicht rückgängig machen. Die beste Vorbeugung: eine sehr gute Einstellung des Blutzuckers und regelmäßige Kontrolle der Augen beim Arzt.
Wie äußern sich Nervenschädigungen durch einen Diabetes?
Dr. med. Eva-Maria Fach: Wir unterscheiden zwischen Nervenschädigungen in Armen und Beinen und Störungen des autonomen Nervensystems. Nervenschädigungen in den Beinen äußern sich meistens zuerst durch ein Kribbelgefühl und Empfindungsstörungen. Ein klares Zeichen sind auch Störungen beim Temperaturempfinden, wenn zum Beispiel heißer Sand nicht als heiß empfunden wird. Oder Störungen bei der Schmerzwahrnehmung, wenn Sie etwa einen Stein im Schuh nicht spüren. Bei einer Schädigung des autonomen Nervensystems kann zum Beispiel die Schweißbildung vermindert sein. Am häufigsten äußern sich Nervenschäden bei Typ-2-Diabetes übrigens an den Füßen.
Welchen Einfluss hat die medikamentöse Therapie auf das Risiko von Folgeerkrankungen?
Dr. med. Ralph Achim Bierwirth: Zu einem Typ-2-Diabetes gehören neben der Zuckerstoffwechselstörung meist auch eine Fettstoffwechselstörung, ein Bluthochdruck, Übergewicht, Bewegungsmangel und eine genetische Vorbelastung für Folge- und Begleiterkrankungen. Unser Ziel ist es, das Risiko von Herz-Kreislauferkrankungen so weit wie möglich zu senken. Zur Behandlung der individuellen Risikokonstellation stehen uns verschiedene Diabetesmedikamente zur Verfügung: zu Beginn der Therapie Metformin, und wenn dies nicht ausreicht z. B. Kombinationspräparate mit einem DPP-4-Hemmer oder SGLT-2-Hemmer – bei fortschreitender Erkrankung auch die Injektion von Inkretinen und letztlich die Gabe von Insulin. Wir setzen vorzugsweise Medikamente mit einem niedrigen Risiko für Gewichtszunahme und Unterzuckerungen ein, die zusätzlich Blutdruck und Blutfette günstig beeinflussen. Einen großen Einfluss auf den Behandlungserfolg hat aber immer der Patient selbst: durch Anpassung seiner Ernährungsgewohnheiten und indem er in Bewegung kommt.
Was bedeutet eine Intensivierung der Therapie und wann sollte sie erfolgen?
Dr. med. Martina Lange: Unter einer Intensivierung der Therapie verstehen wir eine erneute Schulung zu Ernährung und Bewegung und bei Bedarf den Einsatz anderer oder zusätzlicher Medikamente. Unter Umständen kann dies auch die Gabe von Insulin bedeuten. Beim richtigen Zeitpunkt für eine Intensivierung der Therapie spielt der HbA1c-Wert eine entscheidende Rolle: Lässt er sich mit den bisherigen Maßnahmen und Medikamenten nicht in dem Zielbereich halten, den Sie mit Ihrem Arzt vereinbart haben, muss die Therapie angepasst werden.
Ich habe seit sechs Jahren einen Typ-2-Diabetes. Neuerdings macht mir längeres Gehen zu schaffen – immer wieder muss ich Pausen machen…
Dr. med. Marcel Kaiser: Dabei kann es sich um eine Verengung der Bein- oder Beckenarterien handeln, eine so genannte periphere arterielle Verschlusskrankheit oder kurz PAVK. Sie sollten diese Symptome unbedingt Ihrem behandelnden Diabetologen mitteilen, damit die Durchblutung der Beine zum Beispiel mittels Ultraschalluntersuchung genauer untersucht werden kann. Verengte Gefäße können beispielsweise durch eine Katheteruntersuchung erweitert werden, um die Beschwerden zu lindern. Sie können aber auch selbst eine Menge tun, um die Durchblutung zu verbessern. Auch wenn es seltsam klingt: Viel Gehen hilft bei durchblutungsbedingten Gehbeschwerden!
Die Deutsche Diabetes-Hilfe bringt als gemeinnützige und unabhängige Dachorganisation das Wissen von Ärzten, Diabetesberatern, Patienten, Apothekern und Wissenschaftlern zusammen. Betroffene und Interessierte finden hier ein umfangreiches Informationsangebot, zum Beispiel Expertenchats, Telefonsprechstunden und eine Liste der regionalen Selbsthilfegruppen.
Auf der Informations- und Serviceseite des Pharmaunternehmens MSD finden Betroffene aktuelle Informationen zur Therapie von Typ-2-Diabetes, Ernährungstipps und praktische Helfer wie Smartphone Apps oder das „Tagebuch Unterzucker“. Das Angebot ist übersichtlich in Wissen, Symptome, Therapie und Service gegliedert. Dem Thema Folgeschäden ist ein eigenes Kapitel gewidmet.
Der Deutsche Diabetiker Bund (DDB) ist die älteste und größte Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Diabetes. Neben Informationen zu neuesten Entwicklungen bei der Behandlung und Forschung bietet der DDB Unterstützung in Rechtsfragen, Beratung durch Diabeteslotsen und regelmäßige Schulungs- und Infoveranstaltungen.
Die Patientenleitlinien der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften erklären die offiziellen ärztlichen Behandlungsleitlinien in verständlicher Sprache. Sie beruhen auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und bieten medizinischen Laien die Möglichkeit, sich über ihre Erkrankung und die Therapiemöglichkeiten zu informieren.
Die Expertinnen am Lesertelefon waren:
- Dr. med. Ralph Achim Bierwirth; Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe, Ambulantes Diabeteszentrum am Elisabeth-Krankenhaus Essen
- Dr. med. Eva-Maria Fach; Fachärztin für Allgemeinmedizin, Diabetologin und Ernährungsmedizinerin, Stephanskirchen
- Dr. med. Marcel Kaiser; Facharzt für Innere Medizin, Diabetologe DDG, Diabetologische Schwerpunktpraxis, Frankfurt / M.
- Dr. med. Martina Lange; Fachärztin für Innere Medizin und Diabetologie, Diabetes-Schwerpunktpraxis Rheinbach