Zäsur für die Sozialdemokraten: Die SPD muss womöglich ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Europawahl verkraften und landet nach den Prognosen am frühen Abend auf dem dritten Platz hinter der AfD. Das Wahlziel ist also deutlich gerissen.
Im Willy-Brandt-Haus ist die Stimmung unter den Parteianhängern dann auch entsprechend gedrückt. „So still habe ich es hier noch nie erlebt“, sagt einer, der schon Jahrzehnte dabei ist. Als die Zahlen für die AfD über den Bildschirm flimmern, geht ein kollektives Seufzen durch den Raum.
Klingbeil nimmt kein Blatt vor den Mund
Auch den beiden an der Spitze der Partei, Lars Klingbeil und Saskia Esken, sowie Spitzenkandidatin ist Katarina Barley ist der Ausgang an den Mienen anzusehen. Klingbeil nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht davon, dass es nichts schönzureden gebe und man die Niederlage „aufarbeiten“ müsse. Er sei frustriert über das eigene Ergebnis. Man werde sich in der SPD-Spitze zusammensetzen und das Ergebnis gründlich aufarbeiten.
SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert spricht von einem „bitteren Abschneiden aller Ampelparteien“ und gratuliert der Union. „Für uns ist das heute eine harte Niederlage“, sagt er: „Wir müssen bei uns selbst auf Fehlersuche gehen.“ Schuldzuweisungen oder eine Suche nach Sündenböcken lehnt Kühnert ab. „Es wäre schlechter Stil, das jetzt einer Person allein in die Schuhe zu schieben“, sagt er. Auch sei es richtig gewesen, mit Bundeskanzler Scholz auf den Plakaten in den Wahlkampf zu gehen. Dieser zeigt sich am Abend ebenfalls in der Parteizentrale, lächelt und macht Selfies. Wie es in ihm aussieht, kann man nur erahnen.
Für die Parteichefs wird es ungemütlicher
Doch nun wird es auch für die beiden Parteivorsitzenden ungemütlicher. Bislang sorgten Klingbeil und Esken vor allem für eine geschlossene SPD, die sich hinter den Kanzler stellt und Flügelkämpfe beerdigt. Doch bereits Ende vergangener Woche sorgte Klingbeil für rote Linien, machte deutlich, was mit der Partei geht und was nicht.
Der SPD-Vorsitzende hatte darauf gepocht, dass das Haushaltsloch für den Etat 2025 nicht nur über Einsparungen gestopft werden könne. „Was nicht geht, ist, dass man eben mal 30, 40 Milliarden aus dem Bundeshaushalt rausspart“, hatte er gesagt: „Dann würde was kaputtgehen in diesem Land. Und das ist eine klare Botschaft auch an Christian Lindner, dass wir Sozialdemokraten diesen Weg nicht mitgehen und dass dafür andere Lösungen gefunden werden müssen.“
Diskussion um den Kanzler wird deutlicher aufbrechen
Das war mehr ein Signal an den eigenen Kanzler als Ampelpartner. Man hatte in der Partei durchaus aufmerksam vernommen, dass Scholz in öffentlichen Äußerungen sich durchaus hinter den Kurs von FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner gestellt hatte, der keine Ausnahmen von der Schuldenbremse mehr zulassen will. Lindner reagierte prompt und stellte den Fortbestand der Ampel in Frage, Ausgang ungewiss.
Die Diskussion um den Kanzler wird nun deutlicher aufbrechen. Zumal man in den eigenen Reihen jemanden hat, der in allen Umfragen trotz oder gerade wegen klarer Ansagen dominierend ist: Verteidigungsminister Boris Pistorius. Dieser steht am Samstagabend auch im Willy-Brandt-Haus und schaut bedrückt auf den Bildschirm. „Das ist nicht gut“, sagt er leise.
Scholz wird auch intern angelastet, nicht klar zu kommunizieren, die Menschen nicht für sich und die SPD zu begeistern und sich dabei wenig einsichtig zu zeigen. Man ist zunehmend unzufrieden mit dem Mann und seinem Team im Kanzleramt.
Europawahl ließ SPD schon früher ins Chaos stürzen
Europawahlen wurden bereits in der Vergangenheit von Wählern genutzt, um der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. Die SPD landete 2019 bei historisch schlechten 15,8 Prozent, Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles trat wenige Tage nach der Wahl zurück. Und die SPD stürzte ins Chaos. Davon ist man in den Tagen im Mai 2024 zwar weit entfernt. Doch es wird sehr ungemütlich für den Kanzler und seine Partei.
Ganz anders ist die Stimmung bei der Union: Im Adenauer-Haus wird geklatscht. Und zwar laut, anhaltend und deutlich. Man ist zufrieden, liegt man doch deutlich vor dem politischen Gegner. Man ist der klare Wahlsieger. „Wir sind wieder zurück auf Platz eins“, sagt der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz auf der Bühne. „Es sei eine große Ermunterung“, betont Merz.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ist die Freude ins Gesicht geschrieben, auch mit Blick auf die Trends der Konservativen in den anderen europäischen Ländern. Die Union sei „doppelt so groß wie die SPD“. Entweder die Ampel mache einen Kurswechsel „oder den Weg frei für Neuwahlen. Ich hoffe, dass die Kanzlerpartei SPD Konsequenzen zieht.“
Linnemann geht den Kanzler direkt an
Das Ergebnis für die Union, die laut Prognose stärkste Partei bei der Europawahl wurde, wertet Linnemann als „großen Erfolg“. Dies zeige, dass der Weg richtig sei. Und er geht den Kanzler direkt an, fordert ihn auf, die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen. Der Kanzler müsse sich angesichts „mickriger 14 Prozent“ die Frage stellen, ob er wirklich Politik für die Menschen mache, sagt Linnemann im Foyer der CDU-Zentrale: „Ansonsten muss er den Weg freimachen, zum Beispiel mit einer Vertrauensfrage.“
Doch im Adenauer-Haus mischen sich neben dem Jubel auch einige kritische Stimmen. Denn die Ampel wurde abgestraft, aber die Union konnte nicht völlig durchstarten. Ein Ergebnis deutlich über 30 Prozent wäre drin gewesen, wenn, ja, wenn die AfD nicht so stark wäre.
Und die CDU fremdelte von Anfang an deutlich mit ihrer Spitzenkandidatin, der amtierenden EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Doch erst mal ist man bei der CDU zufrieden – die Kanzlerkandidatensuche liegt noch ein wenig in der Ferne.