Wohin steuert die Türkei? Ein Experte beantwortet Fragen

Kristian Brakel, Islamwissenschaftler und Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, beantwortet Fragen zum Thema „Wohin steuert die Türkei“ im Interview. Die Türkei ist in Aufruhr, spätestens seit dem gescheiterten Putsch vor einigen Wochen. Tausende vermeintliche Hintermänner wurden verhaftet. Gleichzeitig gehen Millionen Menschen für die Politik des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf die Straße. Die Beziehungen der Türkei mit der Europäischen Union und den USA sind auf einem Tiefpunkt angelangt. Mit Russland scheint sich Erdogan hingegen wieder ein wenig versöhnt zu haben. Wohin soll das alles führen, was ist Erdogans Plan?

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Das Gespräch führte Johannes Bebermeier

In Deutschland fällt immer häufiger das Wort Diktatur, wenn sorgenvoll über die Zukunft der Türkei diskutiert wird. Wie ernst ist die Lage aus Ihrer Sicht?

Das lässt sich noch nicht beurteilen. Die Türkei ist in den vergangenen Jahren wieder autoritärer geworden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass das ein Trend ist, der anhält. Allerdings würde die Türkei ja nicht von einer Demokratie in eine Diktatur schlittern. Sie war noch nie eine Demokratie. Sie hat immer geschwankt zwischen einer autoritären Militärdiktatur und einer Art gelenkter Demokratie, in der die staatlichen Eliten die Leitplanken vorgeben, innerhalb derer sich die Parteien bewegen dürfen. In den ersten Jahren der 2000er hat die Türkei nun eine etwas demokratischere Phase hinter sich, die allerdings in den vergangenen Jahren wieder zurückgedreht wurde. Ob die Entwicklung jetzt zu einem Ein-Mann-Staat führt oder ob es zu einem breiteren Konsens aller politischen Kräfte und einer stärkeren Einbindung der Opposition kommt – so wie es die türkische Regierung derzeit darstellt -, das ist noch relativ offen.

Woran machen Sie das fest?

In Deutschland wird ein bisschen zu sehr angenommen, dass die vielen Verhaftungen, die es nach dem Putschversuch gab, automatisch einen Trend andeuten. So als würden jetzt alle Oppositionellen in der Türkei verhaftet. Das ist im Moment aber nicht der Fall. Bisher richten sie sich tatsächlich großteils gegen Menschen, die verdächtigt werden, der Gülen-Bewegung nahezustehen. Auch wenn das unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit natürlich nicht entspricht, denn viele mögen zwar Gülen-Anhänger sein, aber man wird den meisten kaum eine Beteiligung am Putsch nachweisen können.

Die „Säuberungen“ richten sich nicht nur gegen das Militär, was man ja vielleicht nachvollziehen könnte, sondern auch gegen Justiz, Schulen, Medien, Polizei. Wie beurteilen die Türken das?

Erdogan hat die breite Unterstützung der Bevölkerung. Nicht nur seiner eigenen Anhänger, sondern auch von Leuten, die ihm eigentlich fernstehen – linken Intellektuellen, Menschen, die zuvor scharfe Gegner Erdogans waren. Die „Säuberungen“ basieren auf der Annahme, dass die Gülen-Bewegung viele Teile des Staates unterwandert hat. Das ist mit Sicherheit auch richtig, wobei man über das Wort „unterwandert“ streiten kann. Denn sie sind mit Unterstützung Erdogans in diese Positionen gekommen. Nun will man dieser Bewegung den Boden entziehen.

Gilt das auch für die Medien?

Es sieht bisher so aus, als ob es tatsächlich vor allem Gülen-nahe Medien sind, die geschlossen werden. Es gibt durchaus linke, regierungskritische Medien, die in den vergangenen Jahren immer wieder Einschränkungen erfahren haben und jetzt nicht betroffen sind.

Wie sehen Sie die Rolle des Predigers Fethullah Gülen beim Putsch?

Die türkische Regierung behauptet, sie habe Beweise, dass er dahintersteckt. Aber die Beweise sind nicht öffentlich. Es gibt Aussagen einiger Putschisten. Davon haben einige die Gülen-Bewegung als Verantwortlichen benannt. Aber laut Amnesty International gibt es starke Hinweise darauf, dass Putschisten in Haft misshandelt wurden. Von daher ist unklar, ob man diesen Aussagen trauen kann. Es erscheint mir nicht unlogisch, dass Gülen-Anhänger darin verwickelt waren. Ob sie die Hauptstrippenzieher waren, Gülen selbst gar, das kann ich derzeit nicht beurteilen.

Wie hat der gescheiterte Putsch Erdogans politischen Kurs verändert?

Er hat auf jeden Fall eine neue Dynamik ausgelöst. Die Stimmung im Land hat sich komplett gewandelt. Das wird auch in Deutschland oft unterschätzt. Diese Putschnacht war für einen Großteil der Bevölkerung traumatisierend, gerade für die, die in Ankara oder in Istanbul waren. Es ist aber noch unklar, wohin diese Dynamik nun führt. Es gab die Großdemonstration am Sonntag mit Millionen Teilnehmern. Da haben nicht nur Erdogan und der Premierminister gesprochen, sondern auch die Chefs der beiden großen Oppositionsparteien. Nur die prokurdische HDP war nicht eingeladen. Erdogan hat Journalisten eingeladen und die Rolle der Medien gewürdigt, auch die oppositioneller Medien. Anders als noch in den ersten Tagen nach dem Putsch hat Erdogan sich um einen Schulterschluss bemüht.

Was will er damit erreichen?

Es gibt zwei Erklärungsmöglichkeiten: Die erste ist, dass Erdogan bei dem Putsch bemerkt hat, dass viele Leute, die er zu seinen engen Vertrauten zählte, sich gegen ihn gewendet haben. Ein Beispiel ist Geheimdienstchef Hakan Fidan. Offenbar war er über den Putsch schon am Nachmittag informiert, hat aber weder den Präsidenten noch den Premierminister benachrichtigt. Da stellt sich für Erdogan nun die Frage, wem er überhaupt noch trauen kann. Hinzu kommt der wachsende Druck des Auslands. Erdogan könnte zeigen wollen, dass sein Handeln nicht nur eine reine Erdogan-Show ist, sondern die Türken hinter ihm stehen. Daraus könnte aus seiner Sicht die Notwendigkeit erwachsen, ein breites Bündnis zu bilden. Die zweite mögliche Erklärung ist, dass Erdogan seine Kritiker und die Opposition zu Tode umarmen will. Das Parteiengezänk könnte er dann für irrelevant und unnötig erklären. Die Argumentation wäre: Die türkische Nation, das sind wir alle. Und der Wille der Nation wird am besten durch ihren Präsidenten verkörpert.

Erdogan strebt eine Verfassungsänderung zum Präsidialsystem an, also zu noch mehr Macht. Sind seine Chancen durch diesen Schulterschluss gestiegen?

Das kommt darauf an, welche Erklärungsmöglichkeit zutrifft. Erdogan hat sich interessanterweise seit Anfang August öffentlich nicht mehr groß zum Präsidialsystem geäußert. Das kann daran liegen, dass er glaubt, für den Schulterschluss das Projekt erst mal zurückstellen zu müssen. Auch weil es nicht mehr Stabilität bringen würde. Trifft die zweite Erklärung zu, könnte er den Weg fürs Präsidialsystem bereiten, indem er die Opposition und die Parteien für eine Verfassungsänderung überflüssig macht. Es gäbe auch die Möglichkeit, das Thema mit der Wiedereinführung der Todesstrafe zu verknüpfen, für die die Verfassung auch geändert werden müsste.

Erdogan spricht bei der Todesstrafe davon, dass das Volk sie will und er sich dem nicht widersetzt. Woher kommt diese Initiative, wirklich aus dem Volk? Damit provoziert Erdogan die USA und die EU weiter.

Es gab natürlich demonstrierende Mobs, die das nach dem Putsch gefordert und auch in Selbstjustiz Putschisten hingerichtet haben. Aber die Forderung wurde von Erdogan und der Regierung aufgenommen und kommt deshalb in erster Linie auch dorther. Ich bin aber noch nicht sicher, ob das wirklich ernst gemeint ist. Erdogan ist jemand, der mit solchen Forderungen gut jonglieren kann. Aber er ist auch ein sehr realpolitisch handelnder Präsident, selbst wenn er das manchmal mit markiger Rhetorik überdeckt. Das haben wir zuletzt an der Annäherung zu Israel und nun zu Russland gesehen. Es sich durch die Todesstrafe mit der EU zu verscherzen, das würde die Türkei allein wirtschaftlich schwer treffen. Und die Wirtschaft ist das Rückgrat seiner AKP. Wenn die Todesstrafe käme, dann nur, wenn er der Ansicht ist, dass sich mit der EU ohnehin nichts mehr aushandeln lässt, wenn es die Visumfreiheit nicht gibt zum Beispiel.

Die EU hat die Beitrittsverhandlungen infrage gestellt, die USA die Nato-Mitgliedschaft der Türkei. Beeindruckt Erdogan das, oder entfremdet ihn das noch stärker vom Westen?

Es gibt eine Entfremdung vom Westen, aber die hängt im Moment eher damit zusammen, dass sich der Westen in der Wahrnehmung der Regierung nicht schnell oder entschieden genug mit der Türkei solidarisiert hat nach dem Putschversuch. Das ist bei einigen Politikern und Medien sicher auch nicht ganz falsch. Einige haben sich schnell auf die Idee eingeschossen, Erdogan habe alles inszeniert. Wenn überhaupt etwas zur Diskussion steht, dann die Mitgliedschaft im Europarat und die Beitrittsgespräche mit der EU. Darauf könnte man immer noch leichter verzichten als auf die Mitgliedschaft in der Nato. Denn die Alternative wäre die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan. Russland hat aber in den vergangenen Jahren viel darangesetzt, militärisch näher an die türkischen Grenzen heranzurücken. Sie haben das Schwarze Meer remilitarisiert, Militär in Armenien stationiert, sind in Syrien sehr präsent. In der SOZ würde die Türkei nicht auf Augenhöhe operieren können so wie jetzt in der Nato. Gleichzeitig weiß Erdogan bei aller Hassliebe zu den USA, dass das militärische Potenzial der Nato wesentlich höher ist. Und er weiß, dass diejenigen mit hohem militärischen Potenzial in der SOZ, nämlich die Chinesen, ein sehr begrenztes Interesse an der Türkei und der ganzen Region haben.

Sie glauben also nicht, dass das Treffen Erdogans mit Putin nun eine längerfristige Hinwendung der Türkei zu Russland und damit eine Abwendung vom Westen bedeutet?

Es gibt das Interesse der Türkei und Russlands an Zusammenarbeit. Schon seit den 2000ern gibt es eine Kooperation. Beide Seiten wollen das wiederherstellen. Für die Türkei ist es wichtig, dem Westen aus strategischer Sicht zu signalisieren: Guckt, wir können auch anders. Und für Putin ist es gut, zeigen zu können, dass er möglicherweise einen Zacken aus der Krone der Nato brechen könnte. Aber das alles wird keinesfalls zu einer gleichberechtigten Partnerschaft führen. Die Staaten sind nicht gleich stark, und die Interessen, gerade in der Sicherheitspolitik, sind sehr unterschiedlich. Zum Beispiel was Syrien angeht, das Schwarze Meer, die Krim. Sie werden zu einer Geschäftsbeziehung zurückfinden, die für beide wirtschaftlich nützlich ist. Eine reale Partnerschaft darüber hinaus, die konkrete militärische Bedrohungen produziert, sehe ich nicht.

„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“, hat Erdogan 1998 gesagt, als er Bürgermeister Istanbuls war, und ist unter anderem dafür in Haft gekommen. Das Zitat wird heute wieder herausgekramt. Droht eine Islamisierung der Türkei, oder hat sich Erdogan davon gelöst?

Es gibt eine Islamisierung in der Türkei, schon seit Längerem. Die läuft aber zumindest bisher nicht so ab, wie das manchmal an die Wand gemalt wird, nämlich so wie im Iran. Wir müssen in nächster Zeit nicht erwarten, dass Geistliche die Hoheit im Staat übernehmen.

Wie sieht die Islamisierung aus?

Es gibt eine Islamisierung der Gesellschaft. Das betrifft vor allem das Bildungswesen. Der Staat tauscht jetzt viele Rektoren aus. Man versucht, normale Schulen zu religiösen Schulen zu machen. Leute, die von religiösen Schulen abgehen, haben inzwischen viel mehr Chancen in Gesellschaft und Staat. Es gibt einige wenige Regulierungen, die sich gegen sogenannte nicht-islamische Praktiken richten. Vor ein paar Jahren etwa gab es eine Anweisung, dass im Umkreis von Moscheen und Schulen kein Alkohol ausgeschenkt werden darf. Es gibt hin und wieder auch tätliche Übergriffe, wobei es die früher während des Ramadans auch schon gab. Zum Beispiel, dass Frauen ohne Kopftuch beschimpft werden. Außerdem haben sich die Debatten verändert. Während vorher religiöse Menschen in der Türkei gar nichts zu sagen hatte oder als Feind galten, ist es nun so, dass religiöse Positionen als Mainstream gelten. Aber: In Studien wie dem World Value Survey kann man sehen, dass diese Regierungspolitik ein Kampf gegen Windmühlen ist. Denn in der Bevölkerung geht die Religiosität in den vergangenen Jahren immer weiter zurück, auch in der Zeit der AKP-Regierung.