Berlin

Wirtschaftsforscher zur Krise: Schwerer Absturz, starke Erholung?

Von Jörg Hilpert
Menschenleerer Strand im Ostseebad Binz: Der Tourismus leidet in der Krise – vielleicht werden aber gerade Inlandsreisen danach beliebter.  Foto: dpa
Menschenleerer Strand im Ostseebad Binz: Der Tourismus leidet in der Krise – vielleicht werden aber gerade Inlandsreisen danach beliebter. Foto: dpa

Auf den ersten Blick ist die Gemeinschaftsdiagnose verheerend: Die Wirtschaftsleistung wird in diesem Jahr um 4,2 Prozent schrumpfen. Auf den zweiten Blick ist sie erstaunlich optimistisch: Für das kommende Jahr sagen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrsgutachten ein Wachstum von sagenhaften 5,8 Prozent voraus. Einfache Rechenübung: 2019 lag das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei rund 3,44 Billionen, also 3440 Milliarden Euro. Ein Minus von 4,2 Prozent bedeutet einen Verlust von gut 144 Milliarden Euro. Ausgehend vom dann niedrigeren Niveau kommen wir mit einem Plus von 5,8 Prozent (rund 191 Milliarden Euro) aber schon wieder auf fast 3,49 Billionen Euro. Mehr als vor der Krise. Sollte das gelingen, kommen wir glimpflich davon. Aber es dauert eben geraume Zeit. Und das Tal ist tief.

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Der wesentliche Punkt ist daher, dieses tiefe Tal zu durchschreiten, ohne zwischendurch zu verdursten. Genau darauf zielen die massiven Zuschüsse und Kredithilfen des Staates ab. Die Forscher der Institute Ifo (München), DIW (Berlin), IfW (Kiel), IWH (Halle) und RWI (Essen) gehen davon aus, dass sie wirken. Eine große Pleitewelle werde ausbleiben. Das Arbeitsvolumen, also die Zahl der tatsächlich geleisteten Stunden, wird vorübergehend stark zurückgehen: Die Selbstständigen haben weniger Aufträge, Millionen abhängig Beschäftigte werden auf Kurzarbeit gesetzt. Eine Massenarbeitslosigkeit aber erwarten die Wirtschaftsexperten gerade deshalb nicht.

Die der Prognose zugrunde liegenden Annahmen wirken eher positiv. Fast schon entschuldigend hieß es dazu in der Pressekonferenz, die zum ersten Mal lediglich im Internet stattfand, man habe sich vor zwei Wochen darauf festlegen müssen. Und so geht die Gemeinschaftsdiagnose auch davon aus, dass der Shutdown – das zeitweise Stilllegen von Wirtschaft und Gesellschaft – lediglich vier bis fünf Wochen dauern wird. Stand heute ist das keineswegs sicher.

Die Forscher räumten deshalb auch ein, dass ihre Vorhersagen mit erheblichen Risiken belastet sind. Timo Wollmershäuser vom Ifo-Institut rechnete vor: Ein weiterer Monat Stillstand bedeutet einen Verlust von noch mal 1,5 Prozentpunkten der Wirtschaftsleistung. Alternative Szenarien haben die Institute trotzdem nicht durchgerechnet. Aufgabe der Gemeinschaftsdiagnose sei, ganz konkrete Zahlen zu liefern, die dann als Basis für die Steuerschätzung und die Haushaltsplanung des Bundes dienen. Deswegen die Festlegung.

Die Forscher gehen auch davon aus, dass die deutsche Wirtschaftsstruktur in Gänze erhalten bleiben wird. Sobald die Restriktionen gelockert würden, fahre die Wirtschaft von selbst wieder hoch. Staatlicher Konjunkturprogramme bedürfe es nicht. Das Ganze verlaufe „eher wie ein V“, sagte Claus Michelsen vom DIW. Schwerer Absturz, starke Erholung. Also kein U, bei dem sich die Sache lang hinzieht. Und schon gar kein L mit einem dauerhaft niedrigeren Niveau der Wirtschaftsleistung.

So ganz mag man dem Braten aber nicht trauen. Auch mittelfristig werden nicht alle Branchen auf ihr Ausgangsniveau zurückkehren. Beim Blick ins Ausland räumen die Experten ein, dass die Erholung in jenen Ländern länger dauern wird, die sehr vom Tourismus abhängig sind – etwa Italien oder Spanien. Womöglich werden sich die reiselustigen Deutschen noch länger zurückhalten, weil sie eine Ansteckung mit dem Coronavirus in den stark betroffenen Ländern fürchten. Was wiederum den Inlandstourismus ankurbeln könnte.

Die Lufthansa ahnt schon jetzt, dass es bleibende Schäden für sie geben wird. Auch deshalb, weil die Unternehmen gerade lernen, dass sich viele Dinge doch auch in einer Videokonferenz klären lassen – die Teilnehmer brauchen lediglich Laptop oder PC, die sie ohnehin nutzen, und eine kostengünstige Software. Wozu also all die teuren Flüge? Das ist wohl jetzt schon sicher: Die Reisebudgets werden zusammengestrichen. Dauerhaft. Gut fürs Klima. Und womöglich ist jetzt auch der Zeitpunkt gekommen, dies endlich in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu berücksichtigen. Konsum plus Staatsausgaben plus Export minus Import – diese einfache Formel bildet die neue Wirklichkeit nicht mehr richtig ab. Ein Minus kann auch positiv sein.

Von unserem Redakteur Jörg Hilpert