Wie gefährlich ist das mutierte Coronavirus? Und was das für den Impfstoff bedeutet

Von Simone Humml, Simon Sachseder, Christian Kunst

Großbritannien meldet eine neue Virusvariante, die sich anscheinend rascher ausbreitet als das bekannte Coronavirus. Viele Experten gehen jedoch aktuell nicht davon aus, dass die Mutationen hochgefährlich sind. Wir geben eine Übersicht darüber, was bislang über die Mutation des Coronavirus bekannt ist:

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1 Mutationen: Viren vermehren sich in Zellen sehr schnell, dabei kann es zu Veränderungen im Erbgut und folglich in den Proteinen kommen, die auf Grundlage der Erbinformation gebildet werden. Mutationen sind bei Viren nicht ungewöhnlich. Manchmal verleihen sie den Erregern neue Eigenschaften, etwa sich nicht nur im Tier, sondern auch im Menschen vermehren zu können. Die neue Virusvariante B.1.1.7 hat gleich mehrere Mutationen, unter anderem im Spike-Protein, das dem Virus ermöglicht, in menschliche Zellen einzudringen. Mutationen sind nicht immer zum Vorteil der Viren.

2 Übertragbarkeit: Die neue Virusvariante sei um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form, hatte der britische Premier Boris Johnson gesagt. Auch die Europäische Gesundheitsbehörde ECDC nennt diesen Wert. Basis ist eine bislang ermittelte Erhöhung des R-Wertes durch die neue Virusvariante im Vergleich zu Regionen, wo diese Variante nicht vorkommt, in einer großen Spannbreite von 0,39 bis 0,93. Der R-Wert beschreibt, wie viele Menschen ein Infizierter im Mittel ansteckt, und damit auch, mit welcher Dynamik sich das Virus verbreitet.

Auch wegen dieser Unsicherheiten sieht der Virologe Christian Drosten eine um 70 Prozent höhere Ansteckungsgefahr als noch nicht gesichert an: Die Frage sei, ob überhaupt die neue Virusvariante an sich an der Ausbreitung schuld sei, „oder dass einfach lokal Übertragungsmechanismen zum Tragen gekommen sind, die auch jedes andere Virus hochgespült hätten“, sagte Drosten im Deutschlandfunk. So weiß man laut dem Virologen Rolf Kaiser von der Kölner Uniklinik noch nicht, ob die höhere Ansteckungsrate nicht etwa damit zusammenhängt, dass die neue Virusvariante sich in Regionen verbreitet, die bislang noch keinen Coronavirus hatten. „Und dann ist diese rasante Ausbreitung eher dem geschuldet, dass das Virus keine Konkurrenz hat.“ Dies treffe etwa auch auf den Südosten Englands zu, wo bislang das Coronavirus noch nicht so verbreitet sei. Prof. Dr. Richard Neher, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien an der Uni Basel, teilt diese Skepsis, sagte gegenüber Spiegel Online aber auch: „Die Hypothese, dass sich diese Variante schneller als bisher ausbreitet, erscheint mir sehr naheliegend. Ob der Ausbreitungsvorteil tatsächlich bei 70 Prozent liegt, wird man sehen. Es könnten auch 30 oder 40 Prozent sein. Auf jeden Fall sieht es im Moment so aus, als verbreitete sich diese Variante substanziell besser als bisherige.“

3 Schwere der Krankheit: „Derzeit gibt es keine Hinweise auf eine erhöhte Infektionsschwere im Zusammenhang mit der neuen Variante“, heißt es seitens der ECDC. Ähnlich äußert sich auch Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Uniklinikum Düsseldorf: „Die gesicherten Erkenntnisse über die Variante im Vereinigten Königreich sind noch sehr lückenhaft. Die Tatsache, dass die Variante sich so rasch in England verbreitet, lässt schon vermuten, dass die Übertragung dieser Variante effizienter ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Variante auch eine schwerere Erkrankung auslöst.“ Drosten sagt über die neue Virusvariante: „Ich bin darüber nicht so sehr besorgt im Moment. Ich bin allerdings auch – genau wie jeder andere – in einer etwas unklaren Informationslage.“

4 Wirksamkeit des Impfstoffs: Drosten sieht bisher keine Folgen der neuen Virusvariante für die Impfstoffwirkung: „Wir haben eine Riesenmischung von Antikörpern als Reaktion auf den Impfstoff, und das wären hier nur ein oder ganz wenige Antikörper, die das betreffen würde.“ Zudem hätten die T-Zellen des Abwehrsystems, die ebenfalls durch Impfen induziert würden, ganz andere Erkennungsstellen. Für den Kölner Virologen Kaiser gibt es daher keinen Grund, den Impfstoff nachzubessern. Und die gute Nachricht sei, dass im Bedarfsfall bei gentechnisch hergestellten Impfstoffen wie dem von Biontech schnell auf Änderungen reagiert werden könne.

5 Verbreitung der Mutation: In Deutschland war die neue Variante bis Montagmittag nicht registriert worden. Drosten geht aber davon aus, dass die Virusvariante Deutschland bereits erreicht hat. „Ich denke, dass das schon in Deutschland ist.“ Das Virus komme seit Ende September in England vor und sei im Oktober noch überhaupt nicht im Fokus gewesen, sagte Drosten. Fälle mit der bereits seit Wochen umlaufenden neuen Variante sind laut ECDC auch in mehreren Staaten außerhalb Großbritanniens, etwa in Dänemark, den Niederlanden oder Australien, gemeldet worden.

Dass das Virus noch nicht in Deutschland entdeckt wurde, kann auch andere Gründe haben: „In Deutschland sind die Bemühungen bei den Sars-CoV-2-Sequenzierungen in meinen Augen nicht ausreichend“, kritisierte Timm. „Großbritannien hat vorgemacht, wie man entsprechende Strukturen aufbauen kann.“ Dort werden bei 5 bis 10 Prozent aller positiven Virusproben deren Gensequenzen komplett analysiert. Neher kritisiert: „Man hätte die genetische Zusammensetzung der Virenpopulation von Anfang an besser überwachen müssen. Wir haben in Deutschland vergleichsweise wenig Sequenzen.“ Nehers Team hat gemeinsam mit US-Kollegen die Internetanwendung „Nextstrain“ (nextstrain.org) entwickelt, mit der sich über eingespeiste Genomsequenzen verfolgen lässt, über welche Wege sich Viren ausbreiten. Die Software analysiert, wie sich ein Erreger verändert, also welche Mutationen er während der Ausbreitung ansammelt – eine Art Stammbaum entsteht. Simone Humml/Simon Sachseder/Christian Kunst

„Sputnik V“ und Astrazeneca-Impfstoff: London und Moskau blasen zum Angriff auf das Virus

Im Kampf gegen das Coronavirus soll eine Kombination aus dem russischen Impfstoff „Sputnik V“ und dem Vakzin des britischen Pharmakonzerns Astrazeneca zu einem hochwirksamen Schutz vor dem Erreger führen. Das teilten beide Seiten bei der Unterzeichnung eines Memorandums für eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Impfstoffen mit. Kremlchef Wladimir Putin lobte im Staatsfernsehen die Kooperation als beispielhaft.

Hier werde getan, wozu die Weltgesundheitsorganisation immer wieder aufruft: „zur Vereinigung der Anstrengungen“. Russland hat neben „Sputnik V“ noch zwei weitere Impfstoffe entwickelt. Eine Kombination verschiedener Vakzine kann laut Astrazeneca womöglich zu einem besseren Schutz gegen das Virus führen. Der Chef des Gamaleja-Forschungszentrums für Epidemiologie und Mikrobiologie, Alexander Ginzburg, sagte in Moskau, dass beide Impfstoffe zusammenpassten. Die klinischen Studien könnten sofort beginnen. Während in Russland bereits Massenimpfungen laufen mit „Sputnik V“, ist das Vakzin von Astrazeneca bisher nicht zugelassen. Bei Russlands staatlichem Direktinvestmentfonds RDIF hieß es, man sei offen für weitere Kooperationen mit westlichen Partnern. „Sputnik V“ sei hochwirksam auch bei Mutationen – wie jetzt in Großbritannien – und preisgünstig.
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