USA

USA-Experte David Sirakov: Biden steht vor Erdrutschsieg mit Verzögerung

Von Christian Kunst

Der Politikwissenschaftler Dr. David Sirakov beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit den USA. Doch solch ein Chaos bei einer Präsidentschaftswahl hat auch der Leiter der Atlantischen Akademie in Kaiserslautern noch nicht erlebt. Trotz des zähen Wartens auf ein Endergebnis und dem danach drohenden juristischen Tauziehen zwischen Amtsinhaber Donald Trump und seinem Herausforderer Joe Biden ist diese Wahl für Sirakov „Ausdruck einer funktionierenden Demokratie“. Im Interview mit unserer Zeitung spricht der Experte über Trumps Angriffe auf die amerikanische Demokratie und den „Erdrutschsieg mit Verzögerung“, den er von Biden erwartet.

Lesezeit: 7 Minuten
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Ist Trump ein schlechter Verlierer, oder sind seine Zweifel an der Wahl in Teilen auch berechtigt?

Es hat sich schon weit vor dem 3. November gezeigt, dass Trump alles versucht, um diese Wahl nicht zu verlieren. Dazu gehört auch, den Wahlausgang schon im Vorfeld als manipuliert darzustellen, indem er etwa die Briefwahl diskreditiert hat, obwohl es dafür überhaupt keine Grundlage gibt. Das setzt sich jetzt fort. Und er hat selbst zugegeben, dass ihm Verlieren nicht leichtfällt. Wenn er deshalb aber die Grundfesten der amerikanischen Demokratie infrage stellt, dann ist das nicht mehr zu rechtfertigen. Natürlich gibt es in den USA aufgrund der sehr unterschiedlichen Wahlsysteme in den Bundesstaaten immer wieder Unregelmäßigkeiten. Aber grundsätzlich einen Betrug zu unterstellen, nur weil man zu verlieren droht, zeigt, dass Trump ein schlechter Verlierer ist. Es ist ein wachsendes Problem der Demokratie in den USA, dass ein gewisser Ethos verloren geht. Die US-Verfassung basiert auch darauf, dass Institutionen wie der Präsident einem gewissen Ethos folgen. Bestimmte Dinge tut man nicht, auch wenn die Sanktionsmöglichkeiten gegen den Amtsinhaber während einer Präsidentschaft begrenzt sind. An viele dieser ungeschriebenen Gesetze fühlt sich Trump nicht gebunden. Präsidenten wie Richard Nixon oder Andrew Jackson haben das auch nicht getan. Aber Trump treibt es auf die Spitze.

In Pennsylvania kam es aber dazu, dass die Stimmabgabe offenbar noch nach dem Wahltag möglich war. Ist das nicht anfechtbar?

Beim US-Wahlsystem stellt sich grundsätzlich die Frage, wie demokratisch manche Regeln sind. Im aktuellen Fall geht es aber nur um einige Unregelmäßigkeiten, die keinen wahlentscheidenden Einfluss haben. Es stimmt einfach nicht, wie das Trump-Lager den Amerikanern einreden möchte, dass Abermillionen illegale Stimmen abgegeben worden sind. Außerdem sieht es derzeit so aus, dass es auf das Wahlergebnis in Pennsylvania gar nicht mehr ankommt. Am Ende dürften die Vorwürfe des Trump-Teams nur noch ein Sturm im Wasserglas sein. Ihre Argumente sind das, was die Wissenschaft Übergeneralisierung nennt: Aufgrund von einigen Unregelmäßigkeiten wird die Behauptung aufgestellt, dass das gesamte System korrupt sei. Das ist natürlich Unsinn. Hinzu kommt die Heuchelei, dass Trump dort weiterzählen lassen will, wo er zurückliegt, und dort einen Stopp möchte, wo er vorn liegt. Es ist ein Zeichen der Stärke der US-Demokratie, dass sich die Bundesstaaten von Trumps Angriffen überhaupt nicht beeinflussen lassen. Der Oberste Gerichtshof hat dies ausdrücklich gestützt, indem er zwei Klagen der Republikaner mit Verweis auf die Rechte der Bundesstaaten zurückgewiesen hat.

Was ist kritikwürdig?

Man kann darüber diskutieren, ob Briefwahlstimmen, die erst nach dem Wahltag eintreffen, noch als gültig gelten und damit zählen. In Deutschland müssen diese Stimmen am Wahltag ankommen.

Viele vergleichen diese Wahl mit der zwischen Al Gore und George W. Bush im Jahr 2000, als erst der Supreme Court entschieden hat, wer Präsident wird. Ist es diesmal aber nicht viel komplexer?

Ja. Der Vergleich hinkt allein deshalb, weil es diesmal nicht auf eine so knappe Entscheidung hinausläuft. 2000 ging es um einige Hundert Stimmen. Diesmal geht es um den Wahlausgang in mehreren Bundesstaaten, in denen es aber jeweils nicht so knapp ist. Der Abstand zwischen beiden Kandidaten umfasst da deutlich mehr Stimmen. Außerdem gab es damals Probleme mit den Wahlstanzmaschinen. Diesmal zweifelt jemand die Wahl an, weil er im Begriff ist, sie zu verlieren. Das ist nicht aus der Not geboren, sondern war immer im Drehbuch der Republikaner und des Trump-Teams vorgesehen. Es war vorher klar, dass die republikanischen Wähler trotz Corona vor allem im Wahllokal abstimmen würden, während es die demokratischen Wähler per Briefwahl oder Early Voting (Stimmabgabe im Wahllokal vor dem 3. November, d. Red.) tun würden. Daher war klar, dass Trump am Anfang führen würde, dass aber später Millionen Briefwahlstimmen dazukommen, von denen eine überwältigende Mehrheit für Joe Biden stimmen wird. Es war also klar, dass es eine Aufholjagd geben würde. Doch am Ende gilt: Eine Wahl ist entschieden, wenn alle Stimmen ausgezählt sind. Daher laufen die Betrugsvorwürfe auch ins Leere. Bis auf einige Unregelmäßigkeiten handelt es sich um Stimmen, die ausgezählt werden müssen. Alles andere ist der Versuch, die eigene Niederlage anderen in die Schuhe zu schieben.

Das Wahlchaos entsetzt viele deutsche Beobachter. Zu Recht?

Ja. Aber wir sollten auch daraus lernen. Mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2021 müssen auch wir uns in der Corona-Krise auf eine enorm hohe Briefwahlbeteiligung einstellen. Darauf sollten wir uns organisatorisch besser als die USA vorbereiten. Zur Ehrenrettung der Amerikaner muss man aber betonen, dass es in einigen Bundesstaaten sehr viele Abstimmungen gleichzeitig gab – vom Präsidenten über den Kongress bis hin zu Gouverneuren oder Staatsanwälten. Die in den Briefwahlunterlagen enthaltenen Wahlzettel sind sehr umfangreich und müssen alle ausgewertet und gezählt werden. Das kostet enorm viel Zeit – sich diese zu nehmen, ist allerdings Ausdruck einer funktionierenden Demokratie, in der so viele Menschen wie nie zuvor gewählt haben.

Wird die Wahl trotzdem wie 2000 vom Supreme Court entschieden?

Das Wahlkampfteam von Trump wird sicherlich versuchen, den juristischen Weg zu beschreiten. Aber das wird schwierig. Beispiel Arizona: Wenn das Trump-Team dort eine Neuauszählung will, muss es dafür bezahlen. Man darf gespannt sein, ob Trump willens und in der Lage ist, sich dies mehrere Millionen Dollar kosten zu lassen, wohl wissend, dass dies nur ein Vehikel ist, um sein Gesicht zu wahren. Und ich halte es für fraglich, ob der Oberste Gerichtshof Trumps Argumentation folgen wird, auch wenn es dort eine überwältigende konservative Richtermehrheit gibt. Man muss wissen, dass die Ablehnung der beiden Klagen aus Michigan und Wisconsin vom konservativen, von Trump nominierten Richter Brett Kavanaugh begründet wurde. Das lässt die Vermutung zu, dass sich die obersten Richter der Verfassung verpflichtet fühlen und nicht der Loyalität zu dem Mann, der sie für ihr Amt vorgeschlagen hat.

Der republikanische Präsident Richard Nixon wurde in den 70er-Jahren von der eigenen Partei zum Rücktritt gedrängt, als ihm eine Amtsenthebung wegen der Watergate-Affäre drohte. Könnte es sein, dass die Republikaner das Gleiche mit Trump tun, wenn klar ist, dass Biden die Mehrheit der Wahlleute auf sich vereinigt hat?

Wenn das der Fall ist, werden sich die Republikaner um den Mehrheitsführer im US-Senat, Mitch McConnell, bewegen müssen. Doch derzeit ist nicht erkennbar, dass führende Republikaner das Rennen für entschieden erklären. Außerdem gibt es viele Republikaner, die absolute Trumpisten sind und bis zum bitteren Ende an diesem Präsidenten festhalten werden. Doch sollte Biden die Mehrzahl der verbleibenden Staaten für sich entscheiden, dann wird die Kraft der Fakten zu stark sein. Denn klar ist doch: Nur weil das Auszählen wegen der Verzögerungen durch die Corona-Pandemie so lange dauert, ist das Rennen zwischen Trump und Biden längst nicht mehr knapp. Es könnte ein Erdrutschsieg mit Verzögerung für Joe Biden werden. Das zeigt allein der große Abstand bei den absoluten Stimmen: Joe Biden ist der Kandidat mit den historisch meisten Stimmen bei einer US-Wahl. Mehr als 74 Millionen Stimmen hat noch nie ein Kandidat bekommen. Und der Abstand zu Trump beträgt mindestens vier Millionen Stimmen. Biden wird am Ende wahrscheinlich einen Vorsprung von 6 Prozentpunkten vor Trump haben.

Biden hätte ja schon am Wahltag für diese Klarheit sorgen können. Warum ist ihm das misslungen?

Weil er Florida verloren hat. Hätte er dort gewonnen, wäre sein Vorsprung noch in der Wahlnacht sehr groß gewesen. Dann wäre viel früher klar gewesen, wohin die Reise geht. Auch die Demoskopen haben Bidens Siegchancen in Florida ganz unterschiedlich eingeschätzt. Dass Biden dort verloren hat, liegt vor allem an dem Zerwürfnis mit den Hispanics in Florida, die vor allem aus Exilkubanern und Latinos mit venezolanischen Wurzeln bestehen. Bei ihnen hat besonders Trumps Sozialismusvorwurf gegen Biden verfangen. Zudem ist Florida ein sehr unberechenbares Terrain für Wahlkämpfer. Aber immerhin hat Florida ein Wahlsystem, das zu schnellen Ergebnissen führt.

Wie ist es Trump gelungen, rund 70 Millionen Wähler für sich zu gewinnen? Das können ja nicht alles Verblendete und Dummköpfe sein.

Es ist wie schon im Jahr 2016 die Furcht vor dem sozialen Abstieg, die Amerikaner dazu bewegt hat, Trump zu wählen. Es ist auch die Furcht vor einer Politik, die von den Republikanern als Sozialismus tituliert wird. Und die ethnische Zugehörigkeit spielt weiter eine große Rolle. Es gibt eine Spaltung der Amerikaner und der Wähler entlang der Ethnien: 80 Prozent der schwarzen Männer und mehr als 90 Prozent der Afroamerikanerinnen haben Biden gewählt. Komplizierter ist es bei den Latinos: Das ist keine so homogene Gruppe. Die Lebenswirklichkeit der Latinos in Arizona ist eine ganz andere als die der konservativen Exilkubaner. Ein Hispanic in Miami sieht sich vermutlich viel mehr als Teil der Mehrheitsgesellschaft der weißen Amerikaner als ein Latino in Phoenix (Arizona), der sich eher zu einer Minderheit zählen wird.

Wie kann es einem Präsidenten Joe Biden gelingen, die Millionen Trump-Wähler einzubinden?

Biden würde das gern tun. Doch das wird enorm schwer. Sein zentrales Problem wird sein, dass es im US-Senat voraussichtlich auch künftig eine knappe Mehrheit der Republikaner geben wird. Das bedeutet, dass die Republikaner an ihrer Lehre aus den vergangenen 40 Jahren festhalten werden: dass Kompromisse ihre Wahlchancen nicht erhöhen, sondern nur die Blockade und Zerstörung von Gesetzesinitiativen der Demokraten. Der Senat dürfte also auch künftig eine Vielzahl an Gesetzen verhindern. Deshalb ist die Chance sehr gering, dass Joe Biden diesen tiefen gesellschaftlichen Graben zwischen Demokraten und Republikanern zuschütten kann. Daher gilt: Wer auch immer eine Wahl gewinnt – der Unterlegene wird sich betrogen fühlen. Das ist Gift für ein Land, das eigentlich so dringend Reformen bräuchte.

Das Gespräch führte Christian Kunst