Koblenz/München

NSU: 210 Prozesstage und kein Beweis?

Die Anwälte der Angeklagten Zschäpe, Wolfgang Heer (links) und Wolfgang Stahl (rechts), unterhalten sich vor Prozessbeginn.
Die Anwälte der Angeklagten Zschäpe, Wolfgang Heer (links) und Wolfgang Stahl (rechts), unterhalten sich vor Prozessbeginn. Foto: picture alliance

Nach zwei Jahren und 210 Verhandlungstagen steckt die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, Beate Zschäpe, in einer Krise mit ihren Verteidigern. Derzeit will sie Anwältin Anja Sturm entlassen, möglicherweise auch Wolfgang Heer und den Koblenzer Verteidiger Wolfgang Stahl.

Lesezeit: 4 Minuten

Von unserer Redakteurin Ursula Samary

Aber die drei Juristen sind (vom Staat bezahlte) Pflichtverteidiger und nicht Angestellte der unter anderem wegen Mittäterschaft an zehn Morden und 15 Raubzügen angeklagten 40-Jährigen. Sie müsste also mehr als Unzufriedenheit vorbringen, grobe Pflichtverstöße glaubhaft vortragen. Deshalb geht Stahl im Gespräch mit unserer Zeitung davon aus, nicht nur am heutigen 211. Verhandlungstag, sondern möglicherweise noch ein weiteres Jahr an der Seite von Zschäpe zu sitzen.

Dass Zschäpe zuletzt ihre Verteidiger schnippisch im Gerichtssaal ignorierte, nimmt Stahl „mit gesundem Selbstbewusstsein“ hin. Die mehr als dreijährige U-Haft, der seit Mai 2013 laufende Prozess samt schwersten Vorwürfen seien eben belastend, auch für Zschäpe. Sein Verhältnis zur Mandantin beschreibt er als unverändert geschäftsmäßig – „mit der notwendigen Distanz, nicht zu nah, nicht zu fern“.

Gerichtspsychiater Norbert Nedopil hat Zschäpe offenbart, wie sehr sie die Schweigestrategie inzwischen zermürbt. Deshalb galt es am vergangenen Prozesstag schon als kleine Sensation, als sie auf die Frage des Richters, ob sie der Verhandlung noch folgen könne, plötzlich nicht wie gewohnt nur nickte, sondern erstmals ihre Stimme mit einem „Ja“ hören ließ. Bröckelt die Fassade, wie sie dem Gutachter sagte, also immer mehr? Will sie tatsächlich ihr Schweigen brechen, wie sie in ihrem Schreiben an das Münchener Oberlandesgericht andeutet, aber offenlässt, zu was sie sich konkret äußern will?

Ihr Verteidiger Stahl kann nachvollziehen, wie schwer es ist, ständig den normalen menschlichen Reflex zu unterdrücken, sich gegen als falsch empfundene Behauptungen zu wehren. Aber er sieht im konkreten Fall keinen alternativen Rat dazu. Jeder, der sein Leben über die Strecke von 20 Jahren schildern soll, laufe Gefahr, sich in Widersprüche zu verwickeln. Die Anwälte hätten ihr natürlich nicht aufgezwungen, kein Wort zu sagen. „Das ist ein Rat, aber letztlich immer die Entscheidung des Mandanten.“

Terroristin oder Mitläuferin?

Ob die Strategie aufgeht, wird der alle Seiten strapazierende Mammutprozess zeigen. Aus Stahls Verteidigersicht ist auch nach zwei Jahren Beweisaufnahme vollkommen offen, welche Rolle Zschäpe, die einzig Überlebende des sogenannten NSU-Trios, eingenommen haben könnte – ob sie nun Neonaziterroristin, NSU-Braut, Komplizin von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos oder nur Mitläuferin des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) war. Der Prozess habe bisher nichts Belastbares ergeben, was die Anklagevorwürfe stütze. Selbst wenn das Gericht überzeugt sein sollte, dass Zschäpe die Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße, in der die drei zuletzt wohl zumindest zeitweise gelebt hatten, in Brand gesetzt hat, ist für den Juristen nicht bewiesen, dass Zschäpe dann den Tod einer Nachbarin (89) in Kauf genommen hat, womöglich auch den von zwei Handwerkern, die zufällig Pause machten: Kurz, Stahl hält die Anklage der Bundesanwaltschaft weiter für konstruiert. Er sieht auch heute nur Pixel, „die aber kein erkennbares Bild ergeben“. Die einzelnen Pixel „finden sich zwar auch in dem Bild der Anklage wieder“, könnten aber ebenso gut auch „zu einem ganz anderen Bild gehören“.

Wenn Zschäpe geholfen habe, die Legende eines normalen Alltags zu stricken, bedeute dies erst einmal nicht, dass sie in Mord- und Raubpläne eingeweiht oder irgendwie aktiv beteiligt gewesen sei, sagt Stahl. Aber muss er in der Rolle des Strafverteidigers nicht so argumentieren? Stahl betont dann: Der Prozess habe zu den Mordanschlägen bisher noch kein einziges belastbares Indiz für einen mittäterschaftlichen Beitrag Zschäpes oder auch nur eine tatrelevante Beihilfehandlung zutage gefördert.

Auch für den Fall, dass das Gericht zu der Überzeugung kommt, dass Zschäpe nach dem Tod von Böhnhardt und Mundlos die offenbar vorbereiteten, adressierten und frankierten Umschläge, in denen die DVD mit dem Bekennervideo steckte, versandt haben sollte, ist für den Koblenzer noch nicht der zwingende Schluss zulässig, dass die Angeklagte die DVD gekannt und sich auch dazu bekannt habe. Daher nur folgerichtig: Stahl hält es – anders als die Bundesanwaltschaft – auch noch weiter nicht für erwiesen, dass es eine terroristische Vereinigung mit mindestens drei Mitgliedern überhaupt gab. Damit bleibt der 43-Jährige bei seiner Einschätzung, die er bereits vor Prozessbeginn hatte. Und vor diesem Hintergrund vertraut er darauf, dass der Vorsitzende Richter Manfred Götzl und sein Senat im Zweifel bei bislang vielen Punkten nicht gegen die Angeklagte urteilen. Obwohl er es war, der die Anklage zuließ, traut Stahl Götzl und den anderen Mitgliedern des Senats die Souveränität zu, Zschäpe nur für das zu verurteilen, was ohne verbleibende vernünftige Zweifel bewiesen ist.

Strapazen für alle Seiten

Das Verfahren setzt Zschäpe so zu, dass derzeit nur noch an zwei statt drei Tagen verhandelt wird. Trotzdem verlangt es auch den Anwälten einiges ab, zumal sich von einem einzigen Pflichtmandat keine Kanzlei unterhalten lässt. „Man muss länger arbeiten“, sagt Stahl dazu. Auch wenn nicht ständig alle drei Verteidiger tagelang in München präsent sein müssen, könne er derzeit keine weiteren umfangreichen anderen Großverfahren mit zahlreichen Hauptverhandlungstagen übernehmen.

Ist ein wachsender Bekanntheitsgrad sein Gewinn? In der Justiz schon, meint er. Briefe, die er auch an andere Staatsanwaltschaften und Gerichte schreibe, „werden mit mehr Interesse gelesen, weil eben ein bekannter Anwalt schreibt“, lautet sein Eindruck. Als Gewinn verbucht er vor allem die vielfachen Erfahrungen aus einem derartigen Großverfahren mit vielen Nebenklägern und auch Medienvertretern.