Wiesbaden

Könnte Walter Lübcke noch leben? Untersuchungsausschuss soll mögliches Behördenversagen klären

Von Gisela Kirschstein
Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bewegt die Menschen im Land auch gut ein Jahr nach der Tat. Ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag soll nun der Frage nachgehen, ob das Attentat möglicherweise durch Behördenversagen begünstigt wurde.  Foto: dpa
Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bewegt die Menschen im Land auch gut ein Jahr nach der Tat. Ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag soll nun der Frage nachgehen, ob das Attentat möglicherweise durch Behördenversagen begünstigt wurde. Foto: dpa

Hätte der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verhindert werden können, wenn die Sicherheitsbehörden bei der rechtsextremistischen Szene in Nordhessen genauer hingesehen hätten? Wie berichtet, soll nun ein Untersuchungsausschuss diese Frage aufklären, kommende Woche wird der hessische Landtag das Gremium einsetzen. Die Opposition nimmt dabei vor allem den hessischen Verfassungsschutz, aber auch Innenminister Peter Beuth (CDU) ins Visier.

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Man habe „kein Vertrauen mehr in die Aufklärungsbereitschaft und die Aufklärungsfähigkeit des hessischen Innenministers und des Landesverfassungsschutzes“, sagte der Linken-Politiker Hermann Schaus in Wiesbaden. Das Misstrauen sitzt tief, denn Lübckes Tod weckte alte Gespenster: Schon beim Mord am Kasseler Internetcafébesitzer Halit Yozgat im Jahr 2006 durch die rechte Terrorgruppe NSU spielte ein Verfassungsschützer eine dubiose Rolle, die bis heute nicht aufgeklärt ist.

Andreas Temme war 2006 genau zu dem Zeitpunkt in dem Internetcafé, als Yozgat erschossen wurde – was Temme dort genau tat, und ob er vorab von dem Attentat erfahren hatte, konnte auch der Untersuchungsausschuss zum NSU-Mord im hessischen Landtag nicht aufklären. Nun aber taucht Temme ausgerechnet im Umfeld von Stephan Ernst wieder auf, der sich seit Dienstag vor dem Frankfurter Oberlandesgericht wegen des Mordes an Lübcke verantworten muss.

Man wolle wissen, in welchem Kontakt Temme zu Stephan Ernst und dem der Mittäterschaft angeklagten Markus H. stand, heißt es im Einsetzungsbeschluss für den Untersuchungsausschuss. Es habe 1989 einen Versuch des hessischen Verfassungsschutzes gegeben, Markus H. anzuwerben, offenbar vergeblich, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Linken, Torsten Felstehausen. Laut dem Linken-Politiker Schaus war Ernst im Umfeld der Neonaziszene in Kassel gut vernetzt und viele Jahre aktiv.

Trotzdem stufte der hessische Verfassungsschutz Ernst 2015 überraschend als „abgekühlt“ ein, seine Akte verschwand in einem gesperrten Container – warum, ist eine der Schlüsselfragen, denen der Untersuchungsausschuss nachgehen soll. Ernst sei „seit seiner Jugend immer wieder als gewalttätiger Rechtsextremist straffällig geworden“, vom Verfassungsschutz sei er noch 2009 als „brandgefährlich“ eingestuft worden, sagt der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Günter Rudolph: „So jemand wird nicht über Nacht zu einem harmlosen Bürger.“ Doch genau als solchen stufte der Verfassungsschutz Ernst ab 2015 ein.

„Der Innenminister stellt es immer so dar, als habe die Akte nach fünf Jahren gelöscht werden müssen“, sagt Schaus. „Das ist aber falsch.“ Der Verfassungsschutz habe die Akte Ernst lediglich prüfen müssen, Schaus spricht deshalb von einer „Schutzbehauptung“ der Behörden. Inzwischen gebe es immer mehr Hinweise, dass Ernst alles andere als „abgekühlt“ war: 2011 tauchte er auf einer rechten Sonnenwendfeier auf, 2018 auf Pegida-Demos in Chemnitz. Der Generalbundesanwalt wirft Ernst inzwischen auch einen Messerangriff auf einen irakischen Asylbewerber im Januar 2016 vor, das Tatmotiv: rechtsextreme Gesinnung.

„Vor den Augen des Verfassungsschutzes“ habe sich in Nordhessen eine rechte Szene „gebildet, verfestigt und vernetzt“, sagt auch Rudolph. Und so werden sich auch der heutige Innenminister Beuth ebenso wie sein Vorgänger Volker Bouffier (CDU) kritische Fragen gefallen lassen müssen. Bouffier hatte 2010 als Innenminister eine direkte Aussage Temmes bei den NSU-Ermittlern verhindert, das Verwaltungsgericht Wiesbaden urteilte gerade erst, der Verfassungsschutz müsse offenlegen, wie oft Bouffier intervenierte und mit welchem Inhalt – das Land Hessen kann dagegen noch Berufung einlegen.

Von unserer Mitarbeiterin Gisela Kirschstein