Klimaforscher Schnellnhuber sieht die Erde im „planetaren Notfallzustand“: „Grönland könnte komplett abschmelzen“

Von Gabriele Ingenthron
Der Helheim-Gletscher auf Grönland
Der Helheim-Gletscher auf Grönland Foto: dpa

Das Klimasystem der Erde könnte schneller kippen als vermutet, warnt der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber. Der Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung erklärt im Interview, warum die Zeit drängt.

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Herr Schellnhuber, Sie gehen davon aus, dass der Klimanotstand schon weiter vorangeschritten ist als bisher angenommen. Wie kommen Sie zu dieser Erkenntnis?

Alle Welt spricht über den Klimanotstand, aber bisher gab es wenige Versuche, wissenschaftlich zu beschreiben, was damit gemeint ist. Und zweitens haben bislang zu wenige Analysen gezeigt, wie weit wir in diesen Zustand schon hineingeraten sind. Dass wir bei der Erderwärmung nicht nur graduelle Veränderungen erfahren, sondern dass bestimmte wichtige Teilsysteme in der globalen Umwelt kippen und in einen anderen Zustand geraten könnten, haben wir schon vor ein paar Jahren gezeigt. Zum Beispiel könnte der Golfstrom stark gestört werden. Grönland könnte komplett abschmelzen, was dann einen Meeresspiegelanstieg von möglicherweise sieben Metern bedeuten würde. Wenn alles Eis der Antarktis abschmelzen würde, wäre das sogar noch viel mehr – über einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten, aber es wäre jenseits eines gewissen Schwellenwertes der globalen Erwärmung ein unaufhaltsamer Vorgang. Jetzt sehen wir, das ist das Neue, dass manche dieser Kippelemente unter Umständen rascher kippen könnten als gedacht.

Was sind diese Kipppunkte?

Es gibt Schwellenwerte, auch wenn die nicht so ganz genau zu bestimmen sind. Wird ein Element des Erdsystems über diesen je unterschiedlichen Schwellenwert gedrückt, so kippt es. Eine wichtige Erkenntnis ist nun, dass die verschiedenen Kippelemente wohl stärker miteinander in Wechselwirkung stehen als bislang gedacht. Und die Einschätzung, wann bei welcher Temperaturerhöhung die roten Linien überschritten werden, hat sich radikal verändert. Vor etwa 20 Jahren beim Weltklimabericht, an dem ich in führender Rolle mitgeschrieben habe, haben wir gedacht, dass solche Kippprozesse wie der mögliche Kollaps des Amazonas-Regenwaldes, das Abschmelzen Grönlands, die Störung des Golfstroms – alles Dinge, die für die globale Umwelt essenziell sind –, dass die Gefahr, dass das wirklich geschieht, irgendwo bei 5 bis 6 Grad Erderwärmung liegt. Inzwischen haben wir aber festgestellt, dass bei ein paar Kippelementen das Risiko möglicherweise schon irgendwo zwischen 1 und 2 Grad deutlich zunimmt. Wir haben jetzt schon über 1 Grad Erderwärmung. Das heißt, wir sind vom Verlust der tropischen Korallenriffe nicht mehr weit entfernt.

Wie viel Zeit bleibt noch bis zur Unumkehrbarkeit solcher Prozesse?

Nach neuesten Erkenntnissen kommen wir zu dem Ergebnis, dass es vielleicht in 50 Jahren soweit ist, dass manche Prozesse unumkehrbar werden – wenn wir einfach weitermachen wie bisher mit dem Ausstoß von Treibhausgasen. Natürlich gibt es da Unsicherheiten. Aber Risiko ist Wahrscheinlichkeit mal Schaden. Wenn der Schaden sehr groß wäre, dann kann auch schon eine geringe Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass unter dem Strich das Risiko erheblich ist. Und wenn diese Großunfälle tatsächlich passieren, dann geraten wir in eine sehr schwierige Lage: Ungeheure Kosten, wahrscheinlich Verlust von vielen Menschenleben. Das sind dann Prozesse, die sich über Jahrhunderte hinziehen können, das geschieht alles nicht von einem Tag auf den anderen. Aber nach erdgeschichtlichen Maßstäben eben doch recht rasch.

Nicht alle wollen das hören. Ihnen und anderen Wissenschaftlern wird auch Alarmismus vorgeworfen, was entgegnen Sie dem?

Hans Joachim Schellnhuber
Hans Joachim Schellnhuber
Foto: picture alliance/dpa

Der Mann im Ausguck der „Titanic“, der den Eisberg gesehen hat und schrie „Maschinen stopp“, war das ein Alarmist? Nein, er hat Alarm geschlagen. Ich nehme diesen Vorwurf inzwischen fast schon als eine Ehrenbezeichnung. Das heißt, dass ich die Menschen darauf hinweise, dass wir uns in einem akuten Notstand befinden. Als Wissenschaftler ist es meine Pflicht und Schuldigkeit, darüber aufzuklären. Die meisten Menschen müssen sich in ihrem Alltagsleben doch um ihre Arbeit kümmern, um ihre Familien, viele sind in je ihrem Gebiet Fachleute, aber sie können nicht alle Klimaexperten sein. Das muss schon derjenige kommunizieren, der sich seit 30 Jahren damit beschäftigt.

Sie sagen, wir brauchen ein neues Narrativ für die Moderne. Welches ist das?

Die Moderne kommt in eine Krise wegen des Klimaeffekts. Das CO2, das wir umsetzen, schlägt gewissermaßen zurück und treibt uns auf diese Kipppunkte zu. Aber was wäre denn, wenn wir das Treibhausproblem nicht hätten, wäre dann alles in Ordnung mit der Moderne? Ich will den Finger in diese Wunde legen, dass wir uns durch hemmungslose Plünderung der Ressourcen und Zerstörung der Artenvielfalt auf dem Planeten eigentlich in eine unmögliche Lage manövriert haben. Zum Beispiel halte ich manche Teile der industriellen Landwirtschaft, die Art, wie inzwischen vielfach Fleisch produziert wird, für eine Verirrung der Menschheit. Die industrielle Moderne ist überall an ihre Grenzen gestoßen. Das Klimaproblem hält uns hier nur den Spiegel vor, in dem wir die hässliche Fratze der Moderne erkennen. Wir sollten also darüber nachdenken, dass wir eine neue Erzählung der Moderne finden, die nicht einfach nur auf dem Götzen Wachstum aufgebaut ist.

Die Fragen stellte Gabriele Ingenthron