Berlin

Klima versus Jobs? Luisa Neubauer und Gewerkschafter Vassiliadis im Streitgespräch

Von Antje Höning, Birgit Marschall
Luisa Neubauer
Luisa Neubauer Foto: dpa

Sie kämpft für das Klima, er für die Arbeitsplätze. Sie ist das Gesicht der Protestbewegung Fridays for Future. Er hat als Gewerkschaftschef den Kohleausstieg mitverhandelt. Wir baten Luisa Neubauer und Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie, in unserer Berliner Redaktion zum Streitgespräch. Sie kam per Rad, er mit dem Auto. Die Stimmung war mal hitzig, mal frostig. Doch am Ende gab es auch Annäherung.

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Luisa Neubauer, Geographie-Studentin und Aktivistin.
Luisa Neubauer, Geographie-Studentin und Aktivistin.
Foto: dpa

Frau Neubauer, der Krieg gegen die Ukraine stellt alles in den Schatten. Kommt der Klimaschutz jetzt unter die Räder?

Neubauer: Der Ukraine-Krieg selbst stellt gar nichts in den Schatten, es ist unser Umgang damit. Wenn man will, kann man die Dinge durchaus dort zusammendenken, wo sie zusammenhängen. Oft werden Krisen und Krisenpolitik miteinander verwechselt.

Vassiliadis: Gemeinsam sind wir entsetzt, wie brutal dieser Krieg ist. Er verändert Europa – und lässt uns enger zusammenrücken. Wir müssen die Krise jetzt nutzen, um das, was der Kanzler Zeitenwende genannt hat, auch zur Zeitenwende in der Politik zu machen.

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie
Foto: dpa

Neubauer: Stimmt. Aber aktuell sieht es gar nicht danach aus. Wir werden noch tiefer in die Klimakrise katapultiert, weil sich Regierungen, wie auch die Bundesregierung, entschieden haben, wegen des Ukraine-Kriegs ihre Klimaversprechen zu brechen. Olaf Scholz bewirbt eine neue Gasförderung im Senegal, man plant den Bau von festen LNG-Terminals in Norddeutschland und verabschiedet einen Tankrabatt. All das verlängert das fossile Zeitalter, statt es so schnell wie möglich zu beenden. Wenn nicht schnellstmöglich eingelenkt wird, werden die Klimaversprechen unerreichbar. Das ist verantwortungslos, denn es gäbe ja Alternativen.

Warum halten Sie die vom Kanzler angekündigten Terminals für Flüssiggas (LNG) für falsch? Sie sollen doch den Abschied von russischem Gas ermöglichen.

Neubauer: Schwimmende LNG-Terminals als Übergangslösung sind in Ordnung. Sie können provisorisch Lücken füllen, ohne neue Abhängigkeiten zu schaffen. Doch wenn wir auf Druck der fossilen Industrie tatsächlich feste LNG-Terminals an Land bauen, wollen diese auch über Jahrzehnte ausgelastet sein. So kommen wir nie los von der fossilen Energie. Wir sind schon heute auf dem Klimapfad, den Forscher und Forscherinnen als „Worst-case-Szenario“ bezeichnen. Diese Politik verstärkt das.

Vassiliadis: LNG-Terminals bedeuten nicht, zusätzliches Erdgas ins Land zu holen. Wir ersetzen nur russisches Pipelinegas durch Flüssiggas aus anderen Ländern.

Neubauer: Das stimmt doch nicht. Das Gesetz sieht vor, dass bis zu zwölf neue LNG-Terminals gebaut werden, das übersteigt das Volumen der Importe aus Russland bei Weitem.

Vassiliadis: Also, ich weiß von gerade mal drei stationären LNG-Projekten, die in Planung sind. Und die werden nicht gebaut, um die Nutzung der fossilen Energie zu zementieren, sondern um eine drohende Versorgungslücke abzuwenden. Deutschland und Europa haben sich klar verpflichtet, die Dekarbonisierung bis 2045 anzugehen. Wir sind längst auf dem Weg. Jetzt gilt es zu beweisen, dass Transformation auch sozial und ökonomisch nachhaltig gestaltet werden kann. Nur dann folgen uns auch andere Länder.

Neubauer: Ich würde auch gern glauben, dass wir auf einem guten Weg sind. Das sind wir aber nicht, die Zahlen sprechen für sich. Unter dem Schleier der Überbrückung schafft die Bundesregierung massiv neue Abhängigkeiten von Autokraten. Dabei spielt die Lobbyarbeit der Gasindustrie eine große Rolle. Auffällig ist etwa, dass der Chemiekonzern BASF, in dessen Aufsichtsrat Sie sitzen, vor dem Untergang der Volkswirtschaft warnt, wenn es kein neues Gas gibt. Gleichzeitig operiert das BASF-Tochterunternehmen Dea Wintershall weiter in Russland, im Land des Aggressors.

Vassiliadis: Nun ist das Reden vom Weltuntergang ja gerade groß in Mode.

Neubauer: Wollen Sie damit sagen, dass unsere Proteste nicht wissenschaftlich fundiert sind?

Vassiliadis: Nein, ich will nur Überzeichnungen vorbeugen – auf allen Seiten. In der deutschen Chemie-, Energie- und auch Stahlindustrie gibt es ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Die Unternehmen nehmen dafür richtig viel Geld in die Hand. Das müssten sie nicht tun, sie könnten auch einfach ihren Standort ins Ausland verlagern. Außerdem ist es nun mal Fakt, dass die Chemieindustrie Gas vor allem auch als Rohstoff braucht, um daraus beispielsweise Grundstoffe für Dünger, Medikamente oder Kunststoffe herzustellen. Wir können uns also leicht ausmalen, was passiert, wenn diese Grundstoffe plötzlich fehlen sollten.

Für die Industrie wichtig, für Klimaschützer ein großes Problem: Kohlekraftwerke wie dieses in Niedersachsen.
Für die Industrie wichtig, für Klimaschützer ein großes Problem: Kohlekraftwerke wie dieses in Niedersachsen.
Foto: dpa

Ist ein Vorziehen des Kohleausstiegs auf 2030 noch möglich, wie es die Ampelregierung vorhatte?

Vassiliadis: Ich habe nichts gegen ehrgeizige Ziele, auch nichts gegen den Kohleausstieg 2030 – wenn denn dann eine gesicherte Stromversorgung aus alternativen Quellen garantiert ist.

Frau Neubauer, reicht Ihnen ein Kohleausstieg 2030?

Neubauer: Um mich geht es nicht. Wenn wir ein mittelfristiges Interesse am Projekt Menschheit haben, dann müssen wir unsere globalen Klimaversprechen einhalten. Wenn wir jetzt die Kohlekraftwerke hochfahren, um kurzfristig Löcher zu stopfen, müssen wir vor dem Jahr 2030 aus der Kohle raus. Finden wir andere Wege, reicht ein Ausstieg bis spätestens 2030. Wir erwarten, dass sich auch die G 7 zum Kohleausstieg bis spätestens 2030 bekennen. Unsere Lebensgrundlagen sind doch kein Accessoire der Demokratie, sie sind ihre Voraussetzung.

Wie bringen wir Bürger und Wirtschaft dazu, die Klimawende wirklich zu schaffen?

Vassiliadis: Indem wir nicht länger reden, sondern machen. Pragmatismus ist gefragt. Es gibt zum Beispiel einen Widerspruch zwischen dem notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien und der heutigen Praxis der Naturschutzpolitik, die bisher häufig neue Windkraftanlagen verhindert. Wir müssen die Naturschutzstandards also anpassen. Möglich wäre da, zwischen Naturschutz- und Kulturflächen stärker zu differenzieren. Da ist Klimaminister Robert Habeck ja auch bereits dran – und das ist gut und richtig so. Wir müssen darüber hinaus gesellschaftliche Allianzen bilden. Ich biete Ihnen eine Allianz von IG BCE und Fridays for Future für einen konsequenten Ausbau der Erneuerbaren und Leitungen an.

Neubauer: Allianzen finde ich auch super. Über das Angebot denken wir nach, Herr Vassiliadis. Wir haben bloß keine Zeit für Allianzen, die am Ende bloß fossile Interessen grün waschen. Und solange auch die Industrien, die Sie in der IG BCE vertreten, die Einhaltung der Klimaziele blockieren, weil sie um jeden Preis mehr fossile Energien einfordern, haben wir ein Problem. Wir lassen uns aber nicht vereinnahmen. Und wir schauen nicht weg, wenn Energiewenden unterwandert werden.

Vassiliadis: Mit solchen Unterstellungen werden wir allerdings nicht weit kommen.

Sollte Deutschland ein Gasembargo gegenüber Russland verhängen?

Neubauer: Das wäre völlig richtig. Wir fordern ein Gasembargo – seit mehr als 100 Tagen finanzieren wir den Krieg mit, es ist absurd. Studien zeigen, dass das machbar ist.

Vassiliadis: Diese Studien zeugen von Unkenntnis der Wertschöpfungsketten. Mit einem sofortigen Embargo drohen gewaltige Produktionsausfälle in der Chemie – und in der Folge in nahezu allen anderen Industriebereichen, die ihre Grundstoffe weiterverarbeiten. Der zweitgrößte Gasverbraucher ist übrigens die Ernährungswirtschaft. Auch die Glas-, Papier- und Stahlindustrie könnten dann dichtmachen. Ein großer Teil der deutschen Wirtschaft hängt leider derzeit noch an Putins Gastropf. Um das zu ändern, brauchen wir übergangsweise das LNG-Gas.

Neubauer: Unkenntnis lasse ich mir nicht vorwerfen. Wissenschaftler der Leopoldina und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung haben glasklar ausgerechnet, dass ein Gasembargo für Deutschland sehr wohl machbar wäre. In den vergangenen Monaten wurde von Menschen wie Ihnen, Herr Vassiliadis, Panikmache aufgebaut, um ein Embargo zu verhindern. Wir sind aber in einem Krieg. Meine Freunde in der Ukraine, die jeden Tag um ihr Leben fürchten, fragen sich: Was ist das für eine Debatte in Deutschland?

Die Deutschen sprechen oberflächlich von Wohlstand, am Ende geht es aber doch immer um das Wohlergehen einzelner Industrien – und wir sterben hier. Wir sind moralisch verpflichtet, ein Embargo schnellstmöglich umzusetzen. Teuer ist ja nicht das Embargo an sich, sondern der Krieg, und den verlängern wir durch unsere anhaltenden Zahlungen an Putin.

Vassiliadis: Für Deutschland ist vieles irgendwie machbar, aber deshalb noch lange nicht sinnvoll. Wir haben eine Inflationsrate von fast 8 Prozent. Das kommt wesentlich von den hohen Energiepreisen und den Lebensmitteln. Ein Gasembargo würde beides weiter erheblich verteuern. Wir reden von realen Gefahren für die Versorgung und die soziale Stabilität. Die Industrie ist heute derart vernetzt – die Folgen lassen sich nicht mal eben in der makroökonomischen Theorie modellieren. Das ist der Wissenschaft ja nicht einmal beim Chipmangel gelungen. Wenn wir einen Großteil unserer Wirtschaftskraft verlieren würden, könnten wir der Ukraine auf Dauer auch nicht helfen. Ich wäge also ab.

Menschen sind mehr als nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sind sind auch politische Wesen, sagt Luisa Neubauer in Bezug auf Flugpreise.
Menschen sind mehr als nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sind sind auch politische Wesen, sagt Luisa Neubauer in Bezug auf Flugpreise.
Foto: dpa

Was können Verbraucher tun, um einen Beitrag zu mehr Klimaschutz zu leisten? Sollte die Politik innereuropäische Flüge verbieten oder ein Tempolimit verhängen?

Neubauer: Also glücklicherweise sind Menschen ja mehr als Verbraucherinnen und Verbraucher, sie sind auch politische Wesen. Wir sind da gefragt, wo die Energie- und Verkehrswende umgesetzt wird, wo Akzeptanz geschaffen wird für Erneuerbare und das Tempolimit und so weiter. Und ja, dabei braucht es eine Politik, die durch Verbote Sicherheit schafft, ein Tempolimit. Innereuropäisches Fliegen sollte auch so schnell wie möglich überflüssig werden, für ein Verbot braucht es allerdings erst mal einen massiven Ausbau der Zugnetze. Dass so viel geflogen wird, ist auch eine Folge politischer Entscheidungen, bis heute wird Kerosin nicht ernsthaft besteuert. Bahnfahren muss viel günstiger werden, Fliegen dagegen teurer.

Fleisch ist viel zu billig und das Fliegen auch. Der Staat muss andere Rahmenbedingungen für nachhaltigeren Konsum setzen.

Gewerkschafter Michael Vassiliadis

Vassiliadis: Natürlich müssen wir unser Verhalten verändern. Das Auto sollten wir öfter mal stehen lassen. Aber aus dem ländlichen Raum kommt man nun mal ohne Auto oft nicht zum Arbeitsplatz. Fleisch ist viel zu billig und das Fliegen auch. Der Staat muss andere Rahmenbedingungen für nachhaltigeren Konsum setzen.

Was war in letzter Zeit Ihr persönlicher jeweils größter Beitrag zum Energiesparen?

Vassiliadis: Ich habe als Mitglied der Kohlekommission dabei mitgeholfen, einen Auslaufpfad für die Kohleverstromung zu formulieren. Und ganz persönlich: Ich gehe in Hannover zu Fuß zur Arbeit und bemühe mich, so wenig wie möglich zu fliegen, sondern die Bahn zu nutzen.

Neubauer: Ich kämpfe seit dreieinhalb Jahren jeden Tag für bessere Klimapolitik. Wenn Sie mich als Verbraucherin fragen: Ich lebe vegan, heize in der Regel nicht und habe kein Auto. Ich werbe bei allen Menschen dafür mitzumachen, ermutige sie beispielsweise, das Fleisch besser sein zu lassen. Aber vor allem braucht es Menschen dort, wo wir gemeinsam Druck aufbauen, Wandel gestalten und die fossile Infrastruktur blockieren. Das ist aber die Aufgabe der gesamten Zivilgesellschaft.