Kassenchef: Versicherte bluten für Gröhes Reformen

Große Kassen wie die AOK geraten ins Visier von Kritikern aus den Betriebskrankenkassen.
 
Große Kassen wie die AOK geraten ins Visier von Kritikern aus den Betriebskrankenkassen.   Foto: dpa

Das deutsche Gesundheitssystem darbt dahin, es ist krank. Angeschlagen von gut gemeinten Reformen, von Überlegungen, die oft genug von Lobbyisten gesteuert werden. Mittendrin Gesundheitsminister Hermann Gröhe. Merkels Ex-Generalsekretär gibt sich gern als Macher, als Kenner der Szene. Gröhe sieht sich in seiner politischen Ausrichtung abgesichert durch den Schutz von Kanzlerin Angela Merkel. Ob das reicht angesichts eines Finanzministers vom Schlag eines Wolfgang Schäuble?

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Von unserem Gastautor Reinhard Brücker

Die Antwort scheint klar: Mehrfach hat sich Schäuble beim Gesundheitsminister bedient. Mehr als 10 Milliarden Euro hat er dem Gesundheitsfonds und damit den Krankenkassen in den vergangenen Jahren an Steuerzahlungen entzogen, um die schwarze Null des Bundesetats zu erreichen. Daher darf man die zugesagten gut 11 Milliarden Euro für 2016 angesichts von Flüchtlingsproblemen und Gewaltaktionen stark anzweifeln. Der Druck auf die Kassenbeiträge ist also auch hausgemacht, indem Reserven zweckentfremdet werden. Bereits in diesem Jahr erhebt jede Kasse einen Zusatzbeitrag, und trotzdem schmelzen bei den meisten die Rücklagen.

Was bleibt also von den gut gemeinten Reformen? Die Antwort ist eindeutig: deutlich höhere Kosten und deutlich höhere Beiträge. Das gilt nicht nur für 2016, sondern auch für das Bundestagswahljahr 2017. Gröhes Reformen führen laut Experten zwischen 2015 und 2020 zu Mehrkosten von 40 Milliarden Euro. Gröhe hat sich für die Vielzahl an Reformen auf die Schultern klopfen lassen, ohne die Rechnung zu präsentieren.

Da die Beitragssätze für die Arbeitgeberseite festgeschrieben sind, werden die Mehrkosten jetzt über Zusatzbeiträge allein auf die Versicherten abgewälzt. Dabei wird dann auch noch ein lange bekannter Kardinalfehler nicht behoben: Die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds reichen bei den meisten Kassen zur Finanzierung der medizinischen Versorgung ihrer Versicherten nicht aus. Das unausgewogene Finanzausgleichssystem müsste längst reformiert werden. Auch hier hat Gröhe versagt und eine Chance verpasst. Um das System zukunftsfähig aufzustellen, muss es an diesen Eckpfeilern Veränderungen geben:

1 Gesundheitsfonds: Transparenz herstellen und endlich für einen gerechten Kassenwettbewerb sorgen. Aktuell entscheidet nicht die Kundenorientierung oder die Wirtschaftlichkeit einer Kasse über ihre Position am Markt. Vielmehr ist das fast ausschließlich von Zufällen abhängig. Beispiel: Die ineffizienteste Kasse mit den höchsten Verwaltungskosten gibt ihren Versicherten die geringsten Leistungen, schneidet in den Servicebewertungen sehr schlecht ab, bekommt aber aus dem Gesundheitsfonds die höchsten Zuweisungen – welch ein Irrsinn. Allen ist bewusst, dass bei der Geldverteilung durch das Bundesversicherungsamt erhebliche Defizite über Jahre entstanden sind. Es ist menschlich, dass Kassen, die durch den fehlerhaften Verteilerschlüssel zu viel bekommen – vielfach ist es die AOK -, sich ruhig verhalten, andere abgeschmettert werden, weil das zuständige Ministerium an die heikle Sache nicht heran will. Ein grober ordnungspolitischer Fehler, der das Versorgungssystem infrage stellt.

Zum Vergleich: Beim Länderfinanzausgleich streiten sich die Ministerpräsidenten um 9 Milliarden Euro bis aufs Messer. Beim Gesundheitsfonds gibt es knapp 220 Milliarden Euro zu verteilen. Der Gesundheitsfonds ist ein der Öffentlichkeit und politischen Meinungsbildung entzogenes Subventionssystem, das man einer administrativen Elite von Bürokraten überlassen hat, Beamten, die nicht einmal gesetzlich versichert sind. Ob das bewusst in Kauf genommen wird, um die Reduzierung der Kassen voranzutreiben, ist unklar. Nur eines ist sicher: Die Größe der Kassen ist sicherlich nicht der allein selig machende Faktor. Denn gerade große Kassen haben ihre Leistungen längst gekappt.

2 Kostendämpfung: Wir müssen uns fragen: Was können wir uns künftig erlauben? Die Preisspirale muss ein Ende finden, der Kostendruck minimiert werden. Da darf man auch nicht vor der Krankenhausdichte haltmachen. Ein Beispiel verdeutlicht das Problem: NRW ist flächenmäßig und auch bei der Einwohnerzahl fast identisch mit den Niederlanden: Doch NRW verfügt über 356 Krankenhäuser, das Nachbarland hat nur 132. Die Bettendichte ist um 30 Prozent höher. In anderen Bundesländern sieht es ähnlich aus. In Städten ist überall ein Überangebot. Bei Gröhes Reformen ist die Verbesserung der Qualität am Krankenbett mehr als fraglich. Langfristig tragfähige Lösungen der Struktur- und Finanzierungsfragen kann man nicht erkennen. Sicher sind nur die Mehrkosten für die Beitragszahler. Daraus folgt, dass Kassen bei der Krankenhausplanung mehr Mitspracherechte besonders auf dem Land erhalten müssen. Eine echte Alternative für die Zukunft sind neben einer guten Grundversorgung medizinische Versorgungszentren. Denn die Zahl der Ärzte, die gern als Angestellte arbeiten würden, wächst.

3 Unpopuläre Entscheidungen: Davor darf sich die Politik nicht länger drücken. Wenn man sich vor Augen führt, dass die elektronische Gesundheitskarte bislang 10 Milliarden Euro überwiegend an Beitragsgeld verschlungen hat, ohne eingesetzt werden zu können, bleibt nur festzustellen: Auch das Gesundheitssystem hat seinen Berliner Flughafen. Aussitzen war gestern, heute und in Zukunft muss man zupacken.