London

Jo Cox: Mord lässt Großbritannien im Brexit-Wahlkampf erstarren

Der Wahlkampf um das EU-Referendum war allgegenwärtig und wurde mit harten Bandagen geführt. Doch der brutale Mord an einer Politikerin rüttelt das Land auf – an ein „Weiter so“ ist jetzt nicht zu denken.

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Von Christoph Meyer (dpa)

Jäher hätte der verbissen geführte Wahlkampf um das EU-Referendum in Großbritannien nicht unterbrochen werden können. Eine Woche vor der mit Spannung erwarteten Abstimmung wird die Labour-Abgeordnete Jo Cox, eine begeisterte Europäerin, auf offener Straße niedergemetzelt. Mehrmals, so berichten Augenzeugen, schießt der Angreifer auf die 41 Jahre alte Mutter, anschließend sticht er noch mit einem Messer auf sie ein. Kurz darauf stirbt sie an ihren Verletzungen. Großbritannien verfällt in eine Schockstarre.

Nur wenige Stunden nach der Tat veröffentlicht ihr Mann ein berührendes Statement: „Sie hätte sich jetzt vor allem zwei Dinge gewünscht. Erstens, dass unsere geliebten Kinder viel Liebe erfahren, und zweitens, dass wir uns alle zusammentun, um gegen den Hass zu kämpfen, der sie getötet hat. Hass hat keine Überzeugung, Ethnie oder Religion, er ist giftig.“

Über das Motiv des Täters war zunächst nichts bekannt. Aber die Tat fällt in eine Zeit, in der das Land tief gespalten ist – in Brexit-Befürworter und -Gegner. Beide Seiten bezichtigten sich in den vergangenen Wochen der Lüge und scheuten auch nicht vor persönlichen Attacken zurück. Je näher die Abstimmung rückte, desto schärfer wurde der Ton.

Brexit-Kampagne ausgesetzt

Doch als die ersten Berichte über das Attentat veröffentlicht werden, reagieren die Politiker schnell. Der Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson, das Gesicht der Brexit-Kampagne, gibt bekannt, dass er den Wahlkampf vorerst aussetzt. Er sei „traurig und geschockt“, lässt er per Kurznachrichtendienst Twitter wissen.

Premierminister David Cameron tritt sichtlich bewegt vor die Kameras, lobt „die enorme Leidenschaft und das große Herz der getöteten Abgeordneten“. Seinen für Donnerstag geplanten Wahlkampftermin in Gibraltar sagt er ab. Labour-Chef Jeremy Corbyn bricht mehrmals die Stimme weg, als er im Fernsehen das Engagement der aufstrebenden Politikerin lobt.

Und selbst der abgekochte Chef der europaskeptischen Ukip-Partei, Nigel Farage, schreibt, er sei „zutiefst betrübt“ über den Tod der jungen Labour-Abgeordneten.

Jo Cox war eine ehrgeizige Abgeordnete. Erst bei der Unterhauswahl im vergangenen Frühjahr hatte sie in ihrem Wahlkreis im Norden Englands einen Parlamentssitz erringen können. Sie stirbt, als sie dort zu Besuch ist. In einer Stadtbücherei spricht sie mit Wählern, beantwortet deren Fragen, geht auf ihre Sorgen ein.

Cox ist eine glühende Menschenrechtsaktivistin. Im Unterhaus gründet sie eine Parlamentariergruppe für Syrien. Dennoch kennt sie die Ängste, die viele Menschen in Großbritannien vor Einwanderung haben. Sie verurteilt sie nicht. Auf der Straße, sie war wohl zum Mittagessen in ein nahegelegenes Restaurant gegangen, trifft sie auf ihren Mörder. Die Tat erschüttert das ganze Land. Ein „Weiter wie bisher“ – das ist undenkbar geworden.