Infektionszahlen steigen auf Rekordniveau: So akut macht sich die zweite Welle bemerkbar

Von Christian Kunst, Valentin Frimmer
Coronavirus - Corona-Schnelltest
Blick auf einen Corona-Schnelltest in einer Teststation des Gesundheitsamts der niederländischen Stadt Groningen. Foto: Vincent Jannink/ANP/dpa

Es ist ein Rekordwert, der Fragen aufwirft: Die Zahl der registrierten Neuinfektionen mit dem Coronavirus hat in Deutschland einen Höchstwert erreicht. Die Gesundheitsämter meldeten laut Robert Koch-Institut (RKI) vom Donnerstagmorgen 6638 Fälle in 24 Stunden. Das sind 2580 mehr als am Donnerstag der Vorwoche. Die bisherige Rekordzahl war am 28. März mit 6294 neuen Ansteckungen erreicht worden. Harte Maßnahmen haben den Wert dann stark gedrückt, rund drei Monate lang wurden weniger als 1000 neue Infektionen pro Tag registriert. Anfang August waren die Werte dann wieder gestiegen.

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Das RKI appellierte „dringend“ an die Bevölkerung, sich für den Infektionsschutz zu engagieren. Der nun erreichte Rekordwert heißt laut Experten aber nicht, dass das Virus schlimmer wütet als im Frühjahr. Die Lage in den Kliniken ist weiter vergleichsweise entspannt. RKI-Chef Lothar Wieler sagte, dass man das exponentielle Wachstum noch verhindern könne. „Aber dafür müssen wir uns auch anstrengen.“ Ist das nur Panikmache, wie einige behaupten? Oder ist die Lage ernster, als sie scheint?

1 Kein Vergleich zum Frühjahr: Die aktuellen Corona-Rekordwerte sind nach Expertenangaben nicht wirklich mit den Werten aus dem Frühjahr vergleichbar, weil mittlerweile wesentlich mehr getestet wird. So können deutlich mehr Infektionen auch entdeckt werden, selbst wenn Patienten keine Symptome aufweisen. So wurden in Kalenderwoche 13 (bis 29. März) laut RKI 354.521 Corona-Tests gemacht. Davon fielen 8,7 Prozent positiv aus. In Kalenderwoche 41 (bis 11. Oktober) waren es mit 1.167.428 rund dreimal so viele Tests. In mehreren Labors gab es laut RKI einen Rückstau, einige gaben Lieferschwierigkeiten für Reagenzien an. Und: Das Durchschnittsalter der Infizierten ist aktuell niedriger als im Frühjahr. Der Anteil der Covid-19-Fälle in der älteren Bevölkerung nimmt laut RKI allerdings aktuell leicht zu. Senioren gelten generell als anfälliger für einen schweren und tödlichen Verlauf von Covid-19. Auch Wieler hält die derzeitige Lage nicht für gefährlicher als die im Frühjahr. Er sieht heute im Vergleich zum März viel mehr Erfahrung und Wissen im Umgang mit dem Virus, etwa um die Maßnahmen geschickter einzusetzen und um bei Ausbrüchen schnell zu reagieren.

2 Die Trägheit der Zahlen: Ein wesentlicher Grund, warum die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten in so drastischen Tönen vor einer zweiten Welle und einem exponentiellen, nicht mehr kontrollierbaren Wachstum der Infektionszahlen gewarnt haben, dürfte darin liegen, dass die Dynamik der Corona-Pandemie ob der Trägheit der Zahlen leicht unterschätzt werden kann. Weil zwischen Ansteckung, Test, Ergebnis und Meldung viel Zeit liegt, geben die Zahlen nur einen Hinweis darauf, wie stark das Virus vor etwa einer Woche unterwegs war. Deshalb zeigt sich der Erfolg der jetzt beschlossenen Maßnahmen auch erst in sieben bis zehn Tagen. Das erschwert den direkten Einfluss der Politik.

Die Trägheit der Zahlen zeigt sich auch in den aktuellen Krankenhausfällen: So stieg zuletzt zwar die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen, sie ist aber weiter vergleichsweise niedrig. So wurden laut Divi-Intensivregister von Donnerstag (12.15 Uhr) 655 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt, eine Woche zuvor waren es noch rund 490. Insgesamt sind demnach in Deutschland aber noch rund 8700 Intensivbetten frei. Im Laufe des Mittwoch wurden dem RKI 33 Todesfälle im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 gemeldet. Im Sommer war die Zahl oft einstellig. Das Tückische ist auch hier, dass sich der Anstieg bei den Neuinfektionen erst zeitversetzt bei der Zahl der Schwerkranken und Toten niederschlägt. Und es mangelt an Pflegekräften, die für die aufwendige Versorgung von Covid-19-Patienten gebraucht werden. Erkranken zudem womöglich wieder vermehrt Pflegekräfte an Covid-19, dann dürfte dieser Notstand die Lage weiter verschärfen.

3 Die Dynamik der Zahlen: Bereits im Frühjahr war zu beobachten, wie explosiv die Zahlen in die Höhe schnellen können. Und wie damals zeigt ein Blick in andere Länder wie Frankreich, was uns bevorstehen könnte. In einer Analyse des Science Media Centers in Köln, einem Verbund von Wissenschaftsjournalisten, heißt es: „Schon ein konstantes prozentuales Wachstum führt zu exponentiellem Wachstum. Aktuell beschleunigt sich das prozentuale Wachstum. Während es in den Vorwochen zumeist zwischen 25 und 30 Prozent lag, ist es im Laufe der vergangenen Woche bundesweit auf deutlich mehr als 50 Prozent, in Rheinland-Pfalz sogar teilweise auf mehr als 70 Prozent gestiegen. Ein Wachstum von 50 Prozent pro Woche würde schon in vier Wochen zu täglich 20.000 gemeldeten Fällen führen, nach acht Wochen wären täglich 100.000 Fälle erreicht.“ Vor diesem Hintergrund ist vielleicht klar, warum Kanzlerin Merkel beim Treffen am Mittwoch von einem Unheil sprach, das es abzuwenden gilt.

Christian Kunst/Valentin Frimmer