Im Weltraum blüht ein Teleskop auf: „James Webb“ hat sein kompliziertestes Manöver erfolgreich absolviert

Von Jochen Magnus
Am Donnerstagabend erreichte das „James Webb“-Weltraumteleskop die Eine-Million-Kilometer-Marke und hat nun 70 Prozent seines Weges hinter sich. Ende Januar soll es sein Ziel, den „L2“-Punkt, erreicht und sich völlig entfaltet haben, wie es die Zeichnung zeigt. Dann beginnen Tests.
Am Donnerstagabend erreichte das „James Webb“-Weltraumteleskop die Eine-Million-Kilometer-Marke und hat nun 70 Prozent seines Weges hinter sich. Ende Januar soll es sein Ziel, den „L2“-Punkt, erreicht und sich völlig entfaltet haben, wie es die Zeichnung zeigt. Dann beginnen Tests. Foto: Nasa/jo

Am vergangenen Mittwoch, dem ersten im neuen Jahr, konnten die Nasa-Ingenieure aufatmen: Der Sonnenschirm des „James Webb“-Weltraumteleskops hatte sich komplett entfaltet. Eine der kompliziertesten Prozeduren beim Aufbau des Instruments im All war damit erfolgreich abgeschlossen.

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Fünf Spezialfolien, jede so dünn wie ein Haar, aber fast so groß wie ein Tennisplatz, spannen sich nun zum Schutz vor der Sonnenstrahlung unter dem Teleskop. Die größte „Blüte“ der „Weltraumblume“ ist damit aufgegangen. Kurz darauf wurde der Sekundärspiegel in seine Position gebracht, und nun muss sich nur noch der Hauptspiegel entfalten, damit das Teleskop wie eine Blüte aufgegangen ist.

Seit dem ersten Weihnachtstag befindet sich „James Webb“ im Weltall. Eine „Ariane-5“-Trägerrakete hatte es vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana abheben lassen. Die Reise führt zu einem Punkt im Weltall, der eine ganz besondere Eigenschaft hat, zu „Lagrange 2“, kurz auch „L2“ genannt (siehe Kasten). Ab hier kreisen „James Webb“ und die Erde dann gemeinsam um die Sonne – wie mit einer langen Leine verbunden. Ende des Monats, am 25. Januar, wird das Teleskop angekommen sein. Auf seiner Reise wird es stetig langsamer, die Anziehung der sich entfernenden Erde bremst es ab.

So bleibt noch genug Zeit für die weiteren Auf- und Entfaltungen, die mit Hunderten Motoren, Federn und Seilzügen getätigt werden. Ein Vorgang, der unter Weltraumbedingungen niemals geübt werden konnte und dennoch bisher nahezu reibungslos funktionierte. Die Prozedur ist nötig, weil das fertige Teleskop viel zu groß wäre, um in eine Rakete zu passen. Allein der Hauptspiegel, bestehend aus 18 Sechsecken, misst ausgeklappt sechseinhalb Meter im Durchmesser, die bereits erfolgreich entfalteten Sonnenschirme sogar 21 mal 14 Meter.

Alles, was nun noch anstehe, sei deutlich konventioneller und erprobter als bisher, versichert die Nasa. Es werden noch ein Kühlgerät und der Hauptspiegel des Teleskops ausgeklappt. Kommende Woche soll das Weltraumorigami beendet sein: Das Teleskop erblüht im Sonnenglanz? Nein, genau das darf nicht passieren. Sonnenglanz wäre das Schlimmste, was dem In-strument widerfahren könnte. Denn es beobachtet Infrarotstrahlung aus dem All, also Wärmestrahlung. Das kann es umso besser, je kälter es ist, Sonnenstrahlung wäre kontraproduktiv.

Deswegen schirmen die fünf Folien des Sonnenschildes das Teleskop nahezu komplett ab, mit Sonnenschutzfaktor eine Million. So kann die Temperatur ohne weitere Kühlung auf 39 Kelvin absinken, also 39 Grad über dem absoluten Nullpunkt, was minus 234 Grad bedeutet. Einer der Sensoren, der noch langwelligere Infrarotstrahlung aufnimmt, wird zusätzlich aktiv auf 7 Kelvin (minus 266 Grad) heruntergekühlt.

Neben dem Vorteil, dass Infrarot interstellare Staubwolken besser durchdringt als sichtbares Licht, hat „James Webb“ ein entscheidendes Plus gegenüber dem „Hubble“-Weltraumteleskop: Es kann noch weiter in die kosmische Vergangenheit blicken. Denn sichtbares Licht wird durch die ständige Ausdehnung des Kosmos in den roten (langwelligen) Teil des Spektrums verschoben. „James Webb“ wird, wenn alles gut geht, das Licht der ersten Galaxien einfangen, die vor mehr als 13,4 Milliarden Jahren entstanden sind, nur 400 Millionen Jahre nach dem Urknall, der Entstehung des Universums. So weit konnte Hubble nur einmal zurückschauen und dabei die bisher älteste bekannte Galaxie entdecken.

James Webb soll noch weiter zurückblicken. In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte der Astrophysiker Günther Hasinger: „Die Hauptzielsetzung des „Webb“-Teleskops ist es, das erste Licht zu sehen, das im frühen Universum aufgeflackert ist.“ Beim Blick in die Tiefe der Zeit könnte „James Webb“ 10- bis 20-mal mehr Objekte sehen, als es dem klassischen Bild zufolge zu erwarten wäre. Der Chefwissenschaftler der Europäischen Weltraumagentur ESA hofft, dass damit seine Theorie der sehr frühen Sternentstehung, vielleicht schon 50 Millionen Jahre nach dem Urknall, gestützt werden kann.

Einen weiteren Durchbruch könnte „James Webb“ bei der Suche nach einer „zweiten Erde“ erreichen. Dabei hilft die spektrale Zerlegung des Lichts, die das „James Webb“-Teleskop besonders gut beherrscht. Hasinger hofft, die Fingerabdrücke von Molekülen in der Atmosphäre von Planeten ferner Sonnen zu finden: „Wenn man Glück hat, sind darunter auch Biomarker, also Moleküle, die auf die Existenz von Leben hindeuten.“

So viel Beobachtungszeit wie beim „Hubble“-Weltraumteleskop, das seit etwa 30 Jahren benutzt wird und in Betrieb bleibt, haben die Astronomen mit „James Webb“ nicht: Ursprünglich für eine Dauer von mindestens fünfeinhalb Jahren geplant, reicht nach dem reibungslosen Start der Treibstoffvorrat – für gelegentliche Kurskorrekturen – nun vermutlich sogar für mehr als zehn Jahre aus. Mit seiner bis zu 100-fach erhöhten Empfindlichkeit gegenüber „Hubble“ hat „James Webb“ alle Chancen, unser Weltbild zu erweitern oder vielleicht sogar zu erschüttern – falls das Weltraumorigami weiterhin so gut funktioniert. Jochen Magnus

Live von der Nasa

Lagrange-Punkte sind ganz besondere Orte im All

Verlängert man die gedachte Linie zwischen Sonne und Erde (rund 150 Millionen Kilometer) um weitere 1,5 Millionen Kilometer, erreicht man den „Lagrange-Punkt 2“. Auf ein Objekt, das sich hier befindet, zum Beispiel eine Raumsonde, wirkt die Schwerkraft von Sonne und Erde – in einer Linie stehend – gemeinsam. Die Kräfte addieren sich auf genau jenen Wert, den es braucht, damit die Sonde stets gemeinsam mit der Erde um die Sonne kreist – mit unveränderter Position zu Erde. An jedem anderen Punkt auf dieser Sonnenumlaufbahn, also ohne die Erde dazwischen, wäre die Anziehungskraft etwas geringer, und das Objekt müsste langsamer kreisen, um seinen Orbit zu halten; es würde hinter die Erde zurückfallen. Warum ist das so? Die Fliehkraft, die nach außen wirkt, muss die Anziehungskraft (nach innen) exakt ausgleichen, um die Bahn zu halten. Je schneller man rotiert, das kennt man vom Kettenkarussell, desto höher wird die Fliehkraft. Um eine geringere Anziehung zu kompensieren, braucht es aber weniger Fliehkraft, das bedeutet langsameres Kreisen.

Der konstante Abstand zur Erde ist ideal für ein Weltraumteleskop. Einerseits weit genug weg von störenden Einflüssen wie Atmosphäre, Schatten und Strahlung aller Art, ist es doch nah genug für eine gute Funkverbindung. Nur fünf Sekunden benötigen die Signale, sogar Fernsteuerungen sind so möglich. Das Beste: Abgesehen von gelegentlichen kleinen Kurskorrekturen ist kein Antrieb notwendig.

Es gibt noch vier weitere Lagrange-Punkte. „L1“ funktioniert umgekehrt zu „L2“, er steht auf der Linie zwischen Erde und Sonne, dieses Mal aber in Richtung Sonne, also innen. Hier mindert die Erdanziehung ein wenig der Sonnenanziehungskraft, sodass Objekte langsamer um die Sonne kreisen müssen als sonst wo auf diesem Orbit, um bei der Reise um die Sonne ebenfalls stets genau auf Höhe der Erde bleiben, statt auf seiner Innenbahn vorauszueilen.

Die übrigen drei Punkte liegen fast genau auf der Erdbahn um die Sonne, sind aber viel weiter von uns entfernt („L3“ zum Beispiel genau hinter der Sonne). Auch sie funktionieren nach dem Prinzip der summierten Anziehungskräfte. Es gibt für jeden Planeten diese fünf Lagrange-Punkte. jo

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