Im Weltraum blüht ein Teleskop auf: „James Webb“ hat sein kompliziertestes Manöver erfolgreich absolviert
Fünf Spezialfolien, jede so dünn wie ein Haar, aber fast so groß wie ein Tennisplatz, spannen sich nun zum Schutz vor der Sonnenstrahlung unter dem Teleskop. Die größte „Blüte“ der „Weltraumblume“ ist damit aufgegangen. Kurz darauf wurde der Sekundärspiegel in seine Position gebracht, und nun muss sich nur noch der Hauptspiegel entfalten, damit das Teleskop wie eine Blüte aufgegangen ist.
Seit dem ersten Weihnachtstag befindet sich „James Webb“ im Weltall. Eine „Ariane-5“-Trägerrakete hatte es vom europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana abheben lassen. Die Reise führt zu einem Punkt im Weltall, der eine ganz besondere Eigenschaft hat, zu „Lagrange 2“, kurz auch „L2“ genannt (siehe Kasten). Ab hier kreisen „James Webb“ und die Erde dann gemeinsam um die Sonne – wie mit einer langen Leine verbunden. Ende des Monats, am 25. Januar, wird das Teleskop angekommen sein. Auf seiner Reise wird es stetig langsamer, die Anziehung der sich entfernenden Erde bremst es ab.
So bleibt noch genug Zeit für die weiteren Auf- und Entfaltungen, die mit Hunderten Motoren, Federn und Seilzügen getätigt werden. Ein Vorgang, der unter Weltraumbedingungen niemals geübt werden konnte und dennoch bisher nahezu reibungslos funktionierte. Die Prozedur ist nötig, weil das fertige Teleskop viel zu groß wäre, um in eine Rakete zu passen. Allein der Hauptspiegel, bestehend aus 18 Sechsecken, misst ausgeklappt sechseinhalb Meter im Durchmesser, die bereits erfolgreich entfalteten Sonnenschirme sogar 21 mal 14 Meter.
Alles, was nun noch anstehe, sei deutlich konventioneller und erprobter als bisher, versichert die Nasa. Es werden noch ein Kühlgerät und der Hauptspiegel des Teleskops ausgeklappt. Kommende Woche soll das Weltraumorigami beendet sein: Das Teleskop erblüht im Sonnenglanz? Nein, genau das darf nicht passieren. Sonnenglanz wäre das Schlimmste, was dem In-strument widerfahren könnte. Denn es beobachtet Infrarotstrahlung aus dem All, also Wärmestrahlung. Das kann es umso besser, je kälter es ist, Sonnenstrahlung wäre kontraproduktiv.
Deswegen schirmen die fünf Folien des Sonnenschildes das Teleskop nahezu komplett ab, mit Sonnenschutzfaktor eine Million. So kann die Temperatur ohne weitere Kühlung auf 39 Kelvin absinken, also 39 Grad über dem absoluten Nullpunkt, was minus 234 Grad bedeutet. Einer der Sensoren, der noch langwelligere Infrarotstrahlung aufnimmt, wird zusätzlich aktiv auf 7 Kelvin (minus 266 Grad) heruntergekühlt.
Neben dem Vorteil, dass Infrarot interstellare Staubwolken besser durchdringt als sichtbares Licht, hat „James Webb“ ein entscheidendes Plus gegenüber dem „Hubble“-Weltraumteleskop: Es kann noch weiter in die kosmische Vergangenheit blicken. Denn sichtbares Licht wird durch die ständige Ausdehnung des Kosmos in den roten (langwelligen) Teil des Spektrums verschoben. „James Webb“ wird, wenn alles gut geht, das Licht der ersten Galaxien einfangen, die vor mehr als 13,4 Milliarden Jahren entstanden sind, nur 400 Millionen Jahre nach dem Urknall, der Entstehung des Universums. So weit konnte Hubble nur einmal zurückschauen und dabei die bisher älteste bekannte Galaxie entdecken.
James Webb soll noch weiter zurückblicken. In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte der Astrophysiker Günther Hasinger: „Die Hauptzielsetzung des „Webb“-Teleskops ist es, das erste Licht zu sehen, das im frühen Universum aufgeflackert ist.“ Beim Blick in die Tiefe der Zeit könnte „James Webb“ 10- bis 20-mal mehr Objekte sehen, als es dem klassischen Bild zufolge zu erwarten wäre. Der Chefwissenschaftler der Europäischen Weltraumagentur ESA hofft, dass damit seine Theorie der sehr frühen Sternentstehung, vielleicht schon 50 Millionen Jahre nach dem Urknall, gestützt werden kann.
Einen weiteren Durchbruch könnte „James Webb“ bei der Suche nach einer „zweiten Erde“ erreichen. Dabei hilft die spektrale Zerlegung des Lichts, die das „James Webb“-Teleskop besonders gut beherrscht. Hasinger hofft, die Fingerabdrücke von Molekülen in der Atmosphäre von Planeten ferner Sonnen zu finden: „Wenn man Glück hat, sind darunter auch Biomarker, also Moleküle, die auf die Existenz von Leben hindeuten.“
So viel Beobachtungszeit wie beim „Hubble“-Weltraumteleskop, das seit etwa 30 Jahren benutzt wird und in Betrieb bleibt, haben die Astronomen mit „James Webb“ nicht: Ursprünglich für eine Dauer von mindestens fünfeinhalb Jahren geplant, reicht nach dem reibungslosen Start der Treibstoffvorrat – für gelegentliche Kurskorrekturen – nun vermutlich sogar für mehr als zehn Jahre aus. Mit seiner bis zu 100-fach erhöhten Empfindlichkeit gegenüber „Hubble“ hat „James Webb“ alle Chancen, unser Weltbild zu erweitern oder vielleicht sogar zu erschüttern – falls das Weltraumorigami weiterhin so gut funktioniert. Jochen Magnus