Hitlers Hypothek – vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg

Von Esteban Engel

Den Besiegten wird der Katzentisch zugewiesen. Im Saal einer Villa in Berlin-Karlshorst erleben die deutschen Generäle die ultimative Demütigung. In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 unterzeichnet Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel mit anderen Wehrmachtsoffizieren die Kapitulation im Zweiten Weltkrieg. So gehen vor 75 Jahren in Europa die Kämpfe zu Ende. Nur im Pazifik dauert es noch einige Wochen länger.

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Marschall Georgi Schukow, Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, ordnet an, die deutschen Vertreter weder mit Rang anzureden noch zu grüßen. Nachdem die Übersetzung der Kapitulationsurkunde verlesen ist, deutet Keitel an, dass ihm das Dokument zur Unterschrift vorzulegen sei. Schukow befiehlt: „Kommen Sie zum Schreiben hierher!“

„Ruhm dem Großen Sieg“

In der Eingangshalle des Gebäudes, das von 1945 bis 1949 Sitz der Sowjetischen Militäradministration war, ist noch heute auf Kyrillisch zu lesen: „1941–1945 – Ruhm dem Großen Sieg“. Im Garten stehen Panzer und ein Raketenwerfer. Drinnen, im großen Saal des Deutsch-Russischen Museums, lässt sich Geschichte besichtigen.

Anders sieht es zehn Kilometer westlich aus. Wo sich Adolf Hitler am 30. April 1945 mit einem Pistolenschuss umbringt und seine frisch vermählte Ehefrau Eva Braun eine Giftpille schluckt, befindet sich nur eine schlichte Tafel. „Mythos und Geschichtszeugnis Führerbunker“ steht da, einen Steinwurf vom Holocaustmahnmal und vom Brandenburger Tor entfernt.

Stadt in Trümmern: Für die Mainzer endet der Zweite Weltkrieg schon Ende März mit dem Einmarsch der Amerikaner.  Fotos: dpa
Stadt in Trümmern: Für die Mainzer endet der Zweite Weltkrieg schon Ende März mit dem Einmarsch der Amerikaner. Fotos: dpa
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Von der Geisterstadt, die Berlin in der ersten Maiwoche 1945 war, ist hier nichts zu spüren. Weder der Eingang zu Hitlers Betonfestung noch der Garten, in dem die Leiche des Diktators mithilfe mehrerer Kanister Benzin verbrannt worden ist, sind zu sehen. Stattdessen ein Parkplatz, Rasen und ein Plattenbau.

Im Mai 1945 liegt nach fast sechs Jahren Krieg das NS-Regime in Trümmern. Wie Höhlenbewohner ziehen Menschen durch die Ruinen. Acht Tage hat der Kampf getobt, schreibt der Arbeiter Karl Deutmann in sein Tagebuch. „Mit Fliegerbomben hatte es angefangen, nun war der Ring um die Belagerten geschlossen. Es gab keine Lebensmittel, kein Licht, kein Wasser und kein Verbandszeug mehr. Männer, Frauen und noch mehr Kinder starben. Verwundete starben, Mütter starben bei oder nach der Geburt. Die Toiletten fließen nicht mehr ab, Verwesungsgeruch macht sich bemerkbar, wird unerträglich.“ Die Rote Armee ist unter dem blauen Frühlingshimmel bis in das Stadtzentrum vorgerückt. Die sowjetischen Scharfschützen zielen auf alles, was sich bewegt. Ein Ausbruch ist nicht mehr möglich.

Niederlage zeichnete sich schon lange ab

Die bevorstehende Niederlage lässt sich schon im Sommer 1944 nicht mehr weglügen. Die Alliierten haben nach der Invasion in Frankreich ihre Stellung auf dem europäischen Festland gesichert. Im Osten durchbricht die Rote Armee die 700 Kilometer lange Front der Heeresgruppe Mitte. Im Süden nehmen die Amerikaner Rom ein. Die Nazis reagieren mit noch mehr Terror. Zweifler und Defätisten werden unbarmherzig verfolgt. Mit dem Volkssturm wird die Gesellschaft bis in den letzten Winkel militarisiert. Zwar unterstützt nur noch eine Minderheit in der „Volksgemeinschaft“ Hitler fanatisch. Doch die Generäle kuschen. Ein Aufstand bleibt aus. Propagandaminister Joseph Goebbels schürt die Angst vor einem „Vernichtungskrieg“ gegen Deutschland und „bolschewistischem Terror“. Im letzten Kriegsjahr werden allein in der Hauptstadt mehr als 7000 Suizide registriert.

Im Kampf um Berlin schickte Adolf Hitler auch Kinder in die Schlacht, bevor er sich seiner Verantwortung durch Suizid entzog.
Im Kampf um Berlin schickte Adolf Hitler auch Kinder in die Schlacht, bevor er sich seiner Verantwortung durch Suizid entzog.
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Im Januar 1945 verschanzt sich Hitler in Berlin. Er versucht mit aller Macht, das Blatt noch zu wenden. Doch die Nazidiktatur wird ihren Begründer nur um rund eine Woche überleben. Einen Tag vor dem Suizid hat Hitler Großadmiral Karl Dönitz zum Nachfolger bestimmt, der den Krieg zunächst fortsetzt. Militärgerichte fällen weiter gnadenlose Urteile, Soldaten werden immer noch hingerichtet.

Der Großadmiral beugt sich am Ende aber auch den Realitäten. Dönitz schickt Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg zum britischen Feldmarschall Bernhard Montgomery. Dessen Kapitulation auf dem Timeloberg in Wendisch Evern gilt aber nur für die deutschen Truppen in Norddeutschland, Dänemark, Norwegen und den nördlichen Niederlanden. Deswegen besteht US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower auf eine Kapitulation für die gesamte Wehrmacht. Der vorletzte Akt spielt in einer Schule in Reims. Dort ergibt sich am 7. Mai Generaloberst Alfred Jodl. Die bedingungslose Kapitulation schließt alle Streitkräfte zu Land, zu Wasser und in der Luft ein. Alle Kampfhandlungen sollen am 8. Mai um 0 Uhr eingestellt werden.

Europa in Schutt und Asche

Doch Stalin misstraut den Alliierten. Er verlangt eine Wiederholung der Zeremonie in Berlin. Und so besiegeln Keitel für das Oberkommando der Wehrmacht und das Heer, Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff für die Luftwaffe die umfassende Niederlage. Amerikaner, Franzosen, Briten und Russen feiern in Karlshorst den Triumph mit Wodka und Whisky.

Wenige Tage nach Hitlers Selbstmord unterzeichnete Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht, in Berlin-Karlshorst die Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (rechts).
Wenige Tage nach Hitlers Selbstmord unterzeichnete Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Oberkommandierender der Wehrmacht, in Berlin-Karlshorst die Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg (rechts).
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Die fürchterliche Bilanz: Zwischen 55 und mehr als 60 Millionen Tote, der Massenmord an den Juden, ein Kontinent in Schutt und Asche – Nazideutschland hat unendliches Leid über ganz Europa gebracht. Die Treue der Deutschen zu Hitler bis zum Untergang hat vor allem in den letzten Kriegsmonaten einen hohen Preis gefordert: Von Juli 1944 bis Mai 1945 sterben weitaus mehr Zivilisten als in den vier Kriegsjahren zuvor – und fast ebenso viele Soldaten. Es sei selten, stellt der Historiker Ian Kershaw nüchtern fest, dass ein Land fähig und auch dazu bereit gewesen sei, einen Krieg bis zu seiner totalen Zerstörung zu führen.

Esteban Engel

Millionen Menschen verloren im Zweiten Weltkrieg ihr Leben oder ihre Heimat: Eine Bilanz des Schreckens

Am 8. Mai 1945 endete mit dem Zweiten Weltkrieg der tödlichste militärische Konflikt in der Menschheitsgeschichte. Deutschland, dessen Regime das Gemetzel im Jahr 1939 angezettelt hatte, lag komplett in Trümmern, Millionen Menschen waren auf der Flucht. Neben dem Massenmord an den Juden hatten die Russen die meisten Toten zu beklagen. Zahlen und Fakten:

Bevölkerung: 1939 zählte das Deutsche Reich mit dem angeschlossenen Österreich etwa 80 Millionen Einwohner. Allein seine wichtigsten späteren Kriegsgegner – Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – hatten die fünffache Bevölkerungszahl.

Soldaten im Einsatz: Im Verlauf des Krieges wurden mehr als 17 Millionen deutsche Männer zur Wehrmacht einberufen. Hinzu kamen rund eine Million Angehörige der Waffen-SS. Allein in Heer und Luftwaffe der USA dienten gegen Kriegsende etwa zehn Millionen Soldaten, in der Sowjetunion waren es noch weitaus mehr. Deutschland hatte am Ende nahezu acht Millionen Mann unter Waffen.

Kriegsopfer: Der Krieg in Europa und Asien kostete nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 55 und mehr als 60 Millionen Menschen das Leben, die meisten davon waren Zivilisten. Deutschland zählte etwa 6,3 Millionen Tote, in der Mehrzahl Soldaten. Mit rund 27 Millionen Toten hatte die Sowjetunion die größten Verluste. Die USA beklagten in Europa (bis zum Mai 1945) und im Pazifik (bis zum September 1945) 405.000 Opfer. US-Atombomben töteten etwa 150.000 Japaner. Zu den Opfern gehören auch rund sechs Millionen von den Nazis ermordete Juden.

Kriegsgefangene: Nach Kriegsende waren rund 11 Millionen deutsche Soldaten in Gefangenschaft. Aus sowjetischen Lagern kehrten nur 2 Millionen von 3,3 Millionen zurück, die letzten 1956. Im Laufe des Krieges gerieten etwa 5,7 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft, 3,3 Millionen Rotarmisten überlebten das nicht. Der Prominenteste war ein Sohn des sowjetischen Diktators Josef Stalin.

Kriegswirtschaft: Die USA kostete der Krieg nach heutigem Wert eine Summe von mehr als 4000 Milliarden Dollar. Dabei unterstützten sie die Alliierten mit Waffen. Die eigene Armee wurde so massiv mit Kriegsgerät aufgerüstet, dass die Deutschen nicht mithalten konnten. Säulen der deutschen Kriegswirtschaft waren Rohstofflieferungen aus den besetzten Gebieten und etwa 7,5 Millionen Zwangsarbeiter und Häftlinge in den Konzentrationslagern.

Flüchtlinge: Vor und nach Kriegsende suchten an die zwölf Millionen Menschen aus den östlichen Reichs- und Siedlungsgebieten eine neue Heimat oder wurden vertrieben. Nach unterschiedlichen Schätzungen sollen in den Wirren zwischen 1944 und 1947 etwa 400.000 bis zwei Millionen Flüchtlinge ums Leben gekommen sein. Hunderttausende Polen aus den von der Sowjetunion annektierten Gebieten verloren ihr Zuhause.

Gebietsverluste: Gemessen an den Grenzen von 1937 verlor das Deutsche Reich 114.000 Quadratkilometer oder 24 Prozent seines Staatsgebietes (Pommern, Schlesien, Ostpreußen sowie Ostbrandenburg). Auch Polen hatte trotz Westverschiebung seiner Grenzen große Verluste zu beklagen. Finnland, Ungarn und Rumänien wurden ebenfalls verkleinert.

Kriegsschäden: Mit Kriegsende war Deutschland ein Trümmerfeld: rund fünf Millionen zerstörte oder schwer beschädigte Wohnungen in den großen Städten, zerbombte Fabriken und Verkehrswege. Im Nürnberger Kriegsverbrechertribunal machte die Sowjetunion 71.000 zerstörte Städte und Dörfer sowie 32.000 Betriebe geltend. Zu den britischen Opfern der Luftwaffe zählt die Stadt Coventry.

Deutsche Welle schlägt eine musikalische Brücke zwischen Russland und Deutschland

Zum Gedenken an das Kriegsende vor 75 Jahren überträgt der Auslandssender Deutsche Welle Klassikkonzerte aus leeren Sälen in Berlin, Moskau und Sankt Petersburg. Wegen der Corona-Pandemie finden alle Konzerte ohne Saalpublikum statt. Auf dem Programm der Sendung „Musikbrücke Russland – Deutschland“ stehen Werke von Pjotr Iljitsch Tschaikowski, Dmitri Schostakowitsch, Igor Stravinsky, Modest Petrowitsch Mussorgski, Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart.

Neben den Pianisten Martin Helmchen und Denis Leonidowitsch Mazujew treten auch junge Künstler aus der Russisch-Deutschen Musikakademie auf. Ein Zusammenschnitt der Konzerte ist heute und am morgigen Samstag in den deutsch- und englischsprachigen TV-Programmen und auf der Internetseite der Deutschen Welle sowie auf dem YouTube-Kanal „DW Classical Music“ zu sehen. Ebenfalls aus Anlass des Kriegsendes vor 75 Jahren musiziert heute in der Berliner Staatsoper „Unter den Linden“ ein Ensemble der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Dirigent Daniel Barenboim. Der TV-Sender „3sat“ überträgt live ab 21.45 Uhr das Konzert.
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