Darmstadt

Heute Urteil im Tugce-Prozess: Die Grautöne ergeben das Bild

Vor Mutter Sultan liegt eine Plakette mit dem Foto ihrer Tochter Tugce. Immer wieder weint sie leise, schüttelt den Kopf. Wenige Meter von ihr entfernt im Saal sitzt Sanel M., der für den Tod Tugces vor Gericht steht. Das Landgericht Darmstadt will am (heutigen) Dienstag das Urteil verkünden.

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Von Stephan Köhnlein

„Man hätte sich für die Familie gewünscht, dass es einen höheren Zweck für den Tod gegeben hätte“, sagt Oberstaatsanwalt Alexander Homm in seinem Plädoyer. „Doch leider haben wir hier einen als trivial zu bezeichnenden Hintergrund.“

Schlag mit der flachen Hand

In weiten Abschnitten war es seiner Auffassung nach „ein völlig banaler Abend in einem Schnellrestaurant in Offenbach“ – allerdings mit einem verhängnisvollen Ende. In den Morgenstunden des 15. November 2014 schlug Sanel M. auf dem Parkplatz des Restaurants Tugce mit der flachen Hand ins Gesicht – so stark, dass die 22-Jährige nach hinten umfiel und mit dem Kopf auf den Boden aufschlug. Dabei erlitt sie eine Hirnblutung, an deren Folgen sie wenige Tage später starb.

Der Fall löste eine Welle öffentlicher Aufmerksamkeit und Diskussion aus – weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Die Rollen darin waren schnell verteilt: auf der einen Seite der 18 Jahre alte Sanel M., ohne Ausbildung, bereits mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Auf der anderen Seite die hübsche, bestens integrierte türkischstämmige Lehramtsstudentin, die ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlte. „Komaschläger“ gegen „Heldin“, „Gut gegen Böse“, lauteten die Schlagzeilen.

„Aber es ist in der Regel nicht immer so einfach“, stellt Homm klar. Deswegen war es im Prozess so wichtig, immer wieder einen Schritt zurück zu machen und sich nicht vor dem zu verschließen, was tatsächlich stattgefunden hat. „Es sind die Grautöne, die das Bild ergeben“, sagt Homm.

Schlechte Zeugenaussagen

Allein mit den Zeugenaussagen wäre man nicht weit gekommen – da sind sich Anklage und Verteidigung einig. „Es waren schlechte Zeugen auf beiden Seiten“, sagt Verteidiger Stephan Kuhn. „Die Jungs waren zu schlecht, die Mädchen zu gut vorbereitet.“ So versuchten die Beteiligten vor Gericht, die Tatnacht vor allem auf Basis der ruckelnden und unscharfen Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus mehreren Überwachungskameras zu rekonstruieren.

Deutlich wurde, dass dem Streit Provokationen und Beschimpfungen vorausgingen – sowohl von Sanel M. und seinen Freunden wie von Tugce und ihren Begleiterinnen. Offen blieb etwa die Frage, ob Tugce auf der Toilette des Restaurants zwei damals 13-jährigen Mädchen tatsächlich half, Sanel M. und seine Freunde loszuwerden – was später als Beleg für ihre Zivilcourage gewertet wurde.

An der Schuld von Sanel M. besteht kein Zweifel. Er hat den Schlag zugegeben und zu Beginn und Ende des Prozesses erklärt, dass es ihm leidtue. Die Nebenklage, die die Familie Tugces vertritt, zweifelt die Aufrichtigkeit der Reue jedoch an. Das Geständnis sei von Prozesstaktik geleitet gewesen, sagt Anwalt Macit Karaahmetoglu.

Es gilt als wahrscheinlich, dass das Gericht um den Vorsitzenden Richter Jens Aßling Sanel M. nach Jugendstrafrecht verurteilen wird, da M. zum Tatzeitpunkt gerade erst seit zehn Tagen 18 Jahre alt war. Das Jugendstrafrecht sieht Sanktionen wie Arrest, Arbeitsauflagen oder die Teilnahme an einem Anti-Gewalt-Training vor. Möglich sind auch Haftstrafen im Jugendgefängnis.

Mehr als drei Jahre Haft gefordert

Die Staatsanwaltschaft fordert eine Gefängnisstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Nebenklage befürwortet eine längere Haftdauer, ohne eine konkrete Zeit zu nennen. Die Verteidigung plädiert dagegen für eine Bewährungsstrafe von einem Jahr. Sie beklagt die „beispiellose Vorverurteilung“ ihres Mandanten. „Es gab keine Spur von Schutz des jugendlichen Täters“, kritisiert Anwalt Heinz-Jürgen Borowsky. Und selbst Oberstaatsanwalt Homm räumt ein: „Ich möchte nicht in der Haut des Angeklagten stecken, wenn er mal die schützenden Mauern der Justizvollzugsanstalt verlässt.“