Frank Ulrich Montgomery im RZ-Interview: „Pandemie ist Chaos“

Von Eva Quadbeck
Der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery.
Der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery. Foto: dpa

Sind angesichts der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus noch drastischere Einschränkungen notwendig? Der Ehrenpräsident der Bundesärztekammer und Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, will das nicht ausschließen. Teile der Bevölkerung seien nicht bereit, die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Wieso er Deutschland gegen die Krise dennoch gewappnet sieht, erläutert der Mediziner im Interview:

Lesezeit: 3 Minuten
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Halten Sie die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung des Coronavirus für angemessen?

Ich halte alles für angemessen, was ein Strecken der Ansteckungskurve bewirkt, damit die Kapazitäten im Gesundheitssystem nicht überlastet werden. Es stellt sich aber die Frage: Wie lange will man das dann durchhalten?

Die Bundesregierung sagt, so lang, bis die Kette der Ansteckungen durchbrochen ist ...

Ja. Ich sehe auch, dass Teile der Bevölkerung nicht bereit sind, die notwendigen Konsequenzen aus der Verbreitung des Virus zu ziehen. Dass es aber derart drastische Maßnahmen braucht, um die Bevölkerung darauf hinzuweisen, dass soziale Kontakte stark eingeschränkt werden müssen, finde ich schon einen erschreckenden Hinweis auf die Unvernunft in unserer Gesellschaft.

Der nächste Schritt wäre ein Lockdown, also ein generelles Ausgehverbot, wie es eine Reihe unserer Nachbarländer verhängt hat ...

Ich bin kein Freund des Lockdown. Wer so etwas verhängt, muss auch sagen, wann und wie er es wieder aufhebt. Da wir ja davon ausgehen müssen, dass uns das Virus noch lange begleiten wird, frage ich mich, wann wir zur Normalität zurückkehren. Man kann doch nicht Schulen und Kitas bis Jahresende geschlossen halten. Denn so lange wird es mindestens dauern, bis wir über einen Impfstoff verfügen. Italien hat ein Lockdown verhängt und einen gegenteiligen Effekt erzielt. Die waren ganz schnell an ihren Kapazitätsgrenzen, haben aber die Virusausbreitung innerhalb des Lockdowns überhaupt nicht verlangsamt. Ein Lockdown ist eine politische Verzweiflungsmaßnahme, weil man mit Zwangsmaßnahmen meint, weiter zu kommen, als man mit der Erzeugung von Vernunft käme.

Was halten Sie von den Grenzschließungen?

Ich glaube nicht, dass die Grenzschließungen das Virus aufhalten können. Das ist politischer Aktionismus. Sie können einzelne Autobahnübergänge kontrollieren und abriegeln. Aber dann nehmen die Leute eben die kleinen Landstraßen. Da merken sie es oft nicht, wenn sie über die Grenze fahren

Ist die föderalistische Ordnung im Moment eher hinderlich oder eher förderlich?

Ich finde, dass die Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und den Ministerpräsidenten erstaunlich gut funktioniert. Möglicherweise befeuern sie sich zurzeit gegenseitig, wer die härteren Maßnahmen ergreift. Mich regen aber sogenannte Experten auf, die die Lage schlimmer reden als sie ist und damit den politischen Wettbewerb um die härtesten Maßnahmen noch anfeuern.

So schlimm ist die Lage nicht?

Deutschland gehört zu den Ländern mit den besten statistischen Daten zum Corona-Geschehen. Hierzulande wird sehr viel getestet. Wir haben einen guten Überblick über die Menschen, die tatsächlich an Corona erkrankt sind. Gleichzeitig haben wir ein sehr gut aufgestelltes Gesundheitssystem. Um die Todesrate möglichst niedrig zu halten, kommt es darauf an, die schweren Fälle über einen längeren Zeitraum beatmen zu können. Während in Italien für 60 Millionen Menschen 5000 Intensivbetten vorhanden sind, verfügen wir bei 82 Millionen Menschen über 28.000 Intensivbetten. In Deutschland sterben bislang etwa 0,2 bis 0,3 Prozent der Erkrankten, während es in Italien rund 7 Prozent sind. Dieser Unterschied ist Ausdruck der Qualität unseres Gesundheitswesens.

In Kliniken werden jetzt nicht dringende Operationen verschoben. Sollten niedergelassene Ärzte nun auch nicht dringende Termine wie Vorsorgeuntersuchungen absagen?

Bei den niedergelassenen Ärzte sehe ich zurzeit kein derartiges Kapazitätsproblem. Wenn das so wäre, dann sollten solche Termine verschoben werden. Aber die normale medizinische Versorgung muss natürlich weiterlaufen. Herzinfarkte müssen behandelt und Diabetiker eingestellt werden.

Den Hausärzten fehlen aber Desinfektionsmittel und Schutzmasken ...

Das stimmt. Deshalb wurden ja auch schon die Bestimmungen zur Herstellung von Desinfektionsmittel gelockert. Das können jetzt auch Apotheker übernehmen. Es wird auch in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder Engpässe geben. Pandemie ist Chaos. Aber wenn ich sehe, wie gut Deutschland dieses Chaos beherrscht, beherrschen wir es noch am besten im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Unsere Pandemiepläne sind gut und haben auch relativ gut funktioniert. Dennoch konnte niemand mit genau diesem Virus rechnen.

Wird das Corona-Virus die Welt verändern?

Ich glaube: ja. Es wird die Globalisierung erheblich beeinflussen. Es wird sich im kollektiven Gedächtnis festsetzen und die Frage aufwerfen, ob wir uns ubiquitäre Verkehrswege, Handels- und Lieferketten, aber auch fehlende Autarkie und arbeitsteilige Produktion über Kontinente hinweg in Zukunft leisten können und wollen. Darüber wird es eine Debatte geben, wenn das Coronavirus ausgestanden ist.

Das Gespräch führte Eva Quadbeck

Zur Person

Frank Ulrich Montgomery war von 2011 bis 2019 Präsident der Bundesärztekammer und von 1989 bis 2004 Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Aktuell ist der 67-Jährige Vorsitzender des Weltärztebundes. In seiner Funktion als Präsident der Bundesärztekammer war er einer der beiden Vorsitzenden des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin.

Nach dem Medizinstudium in Hamburg und Sydney erhielt Montgomery 1979 seine Approbation als Arzt und wurde im selben Jahr promoviert. Seit 1986 ist er Facharzt für Radiologie. Bis Ende 2018 arbeitete er als Oberarzt der Radiologischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Im Jahr 2012 verlieh ihm der Senat der Hansestadt den Ehrentitel Professor und würdigte damit sein Engagement im Bereich der Gesundheits- und Sozialpolitik, der Wissenschaft und der medizinischen Ethik. Quellen: Wikipedia/Munzinger

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