Teheran

Der Iran brennt – und keiner soll es merken: Nach der Benzinpreiserhöhung kommt es landesweit zu Protesten

Von unseren Reportern
Im Iran flammt der Protest auf.
Im Iran flammt der Protest auf. Foto: dpa

Der Iran steht wegen der US-Sanktionen wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand. Die Lösung der Regierung: Sie erhöht die Spritpreise. Das treibt viele Iraner auf die Straße. Seit Freitag kommt es immer wieder zu Protesten. Tankstellen und Gebäude wie diese Bank brennen, rund 1000 Menschen sollen verhaftet worden sein. Doch die Regierung will die Unruhen unter der Decke halten.

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Wenn aus der Islamischen Republik Iran berichtet wird, gibt es häufiger noch als im Fall anderer Länder zwei Versionen. Der Unterschied zwischen äußerem Schein und innerem Zustand, zwischen von der erzkonservativen Führung oktroyiertem Lebenswandel und dem Leben hinter verschlossenen Wohnungstüren und blickdicht verhängten Fenstern: Kaum irgendwo auf der Welt ist er so gewaltig wie in dem flächenmäßig zweitgrößten Staat des Mittleren Ostens.

Auch jetzt, während der dritten großen Protestwelle der Landesgeschichte, klaffen Abgründe zwischen diesen beiden Seiten: Während am Freitag Berichte über Proteste zunächst abgestritten wurden und Nachrichten von brennenden Tankstellen und Banken am Samstag vom Innenminister noch als Fake News abgetan wurden, machten Fotos und Videos ebendieser Vorfälle die Runde in den sozialen Medien.

Das Regime reagierte: Seit Freitagmittag Ortszeit wurde der im Iran komplett staatlich kontrollierte Internetverkehr immer wieder gedrosselt, seit dem Abend ist ein Großteil der 80 Millionen Iraner vom Internet beinah komplett abgeschnitten. Beobachter, die weltweit die staatliche Einflussnahme auf das Internet untersuchen, bewerten die Situation als den größten jemals dokumentierten Internet-Blackout eines Landes.

Ringen um die Bilderhoheit

Seit mehr als 40 Jahren, also seit der „Islamischen Revolution“ vom Frühjahr 1979, die der Monarchie ein Ende bereitete und mit Ruhollah Khomeini ein neues geistliches Staatsoberhaupt installierte, kontrolliert die Regierung strengstens die Bilder, die nach außen dringen sollen. Revolutionsfeiern im Februar, grün-weiß-rote Flaggenmeere, „Nieder mit den USA, nieder mit Israel“-Sprechchöre: Diese gewollten Bilder gehen Jahr für Jahr um die Welt. Lange Zeit gelang diese Kontrolle gut – doch mit dem Siegeszug des Internets sieht das Regime seine Hoheit über die veröffentlichten Bilder des Landes in Gefahr.

Erstmals 2009, als vor allem in den großen Städten, allen voran in der Hauptstadt Teheran, Hunderttausende Menschen gegen den als manipuliert angesehenen Wahlausgang protestierten, bekam das Regime die Macht der Bilder zu spüren. Eine junge Studentin namens Neda, die mit ihrem Vater die Demonstrationen in Teheran besucht hatte, soll von der Kugel eines Scharfschützen tödlich verwundet worden sein. Ein Passant filmte die letzten Sekunden ihres Lebens – Neda wurde zum Gesicht der sogenannten Grünen Revolution, bei der Dutzende Protestierende getötet wurden und viele Hundert Menschen inhaftiert und gefoltert worden sein sollen.

Wie bei allen Darstellungen aus dem Iran gibt es auch hier die andere Seite – in diesem Fall die staatliche. So wurde das massenhaft auf YouTube verbreitete Video vom Sterben der Studentin zunächst offiziell als inszeniert und gefälscht hingestellt. Anschließend wurde der Tod Nedas als von Protestlern verantwortet bezeichnet, die eine rührselige Geschichte gegen den Iran hätten erschaffen wollen. In neueren Darstellungen der Staatspresse schließlich ist wieder von einem inszenierten Video die Rede.

Doch das war 2009 – mittlerweile, so scheint es im Iran, verfügt jeder erwachsene Einwohner über mehrere Handys, die trotz staatlicher Kontrolle des Internets über immer wieder neue elektronische Schleichwege doch den Weg zu verbotenen ausländischen Internetseiten und hinein in die sozialen Medien finden. Und so war durch zahlreiche Ankündigungen bereits am vergangenen Donnerstag klar, dass es bald Ärger geben würde: Die Mitteilung des Staatspräsidenten Hassan Ruhani, den Benzinpreis in der Nacht zum Freitag drastisch erhöhen zu wollen, hatte die Furcht der Bevölkerung vor weiteren Preissteigerungen genährt. Denn erfahrungsgemäß gilt der Benzinpreis im Iran als „Mutter aller Inflationen“ – steigt er, werden beinah zeitgleich auch die meisten anderen Preise angehoben.

Doch dafür haben die meisten keinen Spielraum: Wer mehr als die subventionierten 60 Liter Benzin pro Kopf und pro Monat benötigt – und wer tut das nicht als Berufspendler in der Millionenstadt Teheran? – zahlt ab sofort rund das Dreifache, rund 30 Cent pro Liter. Sicher, ein Klacks für deutsche Autofahrer. Für den Normaliraner aber wird eine Tankfüllung zum Luxusgut: Wer durch die katastrophale Wirtschaftssituation und den Dauertiefstand im Wechselkurs des iranischen Rials kaum weiß, wie er für alle Verpflichtungen aufkommen soll, muss sich Tanken für 10 bis 12 Euro gut überlegen angesichts eines Durchschnittsverdienstes zwischen 100 und 200 Euro pro Monat.

Irans Präsident Hassan Ruhani (links) und der Oberste Führer Ali Chamenei verurteilen die Proteste, bei denen landesweit Demonstranten und Polizei aufeinandertrafen und zahlreiche Fahrzeuge, Bankgebäude, Polizeistationen und Tankstellen in Flammen aufgingen.
Irans Präsident Hassan Ruhani (links) und der Oberste Führer Ali Chamenei verurteilen die Proteste, bei denen landesweit Demonstranten und Polizei aufeinandertrafen und zahlreiche Fahrzeuge, Bankgebäude, Polizeistationen und Tankstellen in Flammen aufgingen.
Foto: dpa

Zuletzt hatte es 2018 landesweite, schnell aber wieder zum Schweigen gebrachte Proteste gegeben. Die Frage lautete Ende vergangener Woche nicht, ob es wieder zu Demonstrationen kommen würde, sondern: Wie umfassend und groß würden sie ausfallen? Und: Würde der Staat wieder mit aller Entschlossenheit und Rücksichtslosigkeit vorgehen?

Bis zur Blockade des Internets am Freitagabend bot sich Betrachtern über die sozialen Medien bereits ein klares Bild: So landesumfassend und massiv wie diesmal ist im Iran seit den inländischen Kämpfen während der Revolutionswirren 1979 nicht mehr protestiert worden. Schon bis zum Netz-Blackout machten Bilder von brennenden Polizeiwagen, Tankstellen und Banken die Runde. Und auch die von Polizeitrupps, die massiv auf Protestanten einprügeln, von Menschen, die Verletzte und augenscheinlich Leblose zu bergen und zu versorgen versuchten.

Seitdem gibt es zwei Wahrheiten: die offizielle, die bisher von drei Toten spricht, alle „Aufrührer“, „internationale Agenten“, „Ganoven“ und „Randalierer“ verurteilt und ihnen mit der vollen Härte des Gesetzes droht – und jene, die bis heute nur wie tröpfchenweise den Weg durchs Internet hinaus aus dem Iran findet. Wie stets ist bei diesen Bildern nicht sofort zu sagen, ob sie tatsächlich gerade jetzt entstanden sind. Allerdings hatten zuvor noch nie Gebäude bei Protesten in Touristenhochburgen wie Isfahan und Schiraz gebrannt. Und wer sollte eine Szene fälschen, bei der ein Hubschrauber samt angsteinflößendem Munitionsfeuer über Demonstranten in Schiraz fliegt?

Aus Dutzenden Städten kommen die Bilder von friedlichen Demonstrationen, von Straßenblockaden, bei denen Autofahrer aus Protest gegen die Benzinpreiserhöhung ihre Vehikel kurzerhand auf der Straße abgestellt und damit den Verkehr lahmgelegt haben. Und es gibt Kampfszenen, die eindeutig etwa im Stadtzentrum und in den Vororten der Hauptstadt Teheran zu verorten sind. Der Iran brennt am Wochenende. Aber wissen und vor allem sehen soll das niemand.

Die aus Sicherheitsliebe zu Haus gebliebenen Iraner versuchen, ihre Verwandten und Freunde in aller Welt zu erreichen und zu besänftigen: Das wird schon wieder, sagen sie, die Leute haben sich noch immer beruhigt. Aber dafür dauern diese Proteste, aber auch die Stilllegung des Internets schon zu lang an. Die Staatsmedien berichten erwartungsgemäß staatstragend, die in England ansässigen Fernsehsender BBC Persia und Manoto TV können auch nur mit dem Material arbeiten, das über das Restinternet eintrudelt – und über die Einschätzungen ihrer eigenen Analysten. Und die sind seit Jahren pessimistisch: Ein rasche und grundlegende Änderung der Situation im Iran erhoffen viele, erwarten aber kann man sie kaum.

Zu fest sitzt der geistliche, letztlich stets entscheidende Arm der Regierung im Sattel, zu fest hat er seine Milizen und Gefolgsleute um sich geschart, die für ihre Führungstreue mit allerhand Vorteilen vom lebenslang garantierten Arbeitsplatz bis zur kostenfreien Gesundheitsversorgung für die ganze Familie auf Linie gebracht worden sind. Und trotz wiederholt verschärfter US-Sanktionen und dem damit verbundenen gewaltigen Rückgang der Erlöse aus den riesigen Öl- und Gasreserven des Landes gibt es immer noch genug Iraner, die daran genug verdienen, um völlig ignorieren zu können, wie es dem großen Rest der Bevölkerung geht. Wer es sich irgendwie leisten kann, schickt zumindest seine Kinder ins Ausland zum Studieren – die Abwanderung hoch qualifizierter junger Menschen dürfte das Land langfristig schwächen. Gar nicht zu reden von den Massen an Menschen, die das Heil in der Flucht suchen, wohl wissend, dass ihre Aussichten auch im Ausland nicht rosig sind.

Der Abstieg des Mittelstands

Längst hat sich eine Wut gegen den immer mehr an Tempo gewinnenden Abstieg der Mittelklasse und die grassierende Armut immer größerer Schichten aufgebaut, die nur noch auf einen Zündfunken zu warten schien. Ob die aktuelle Benzinpreiserhöhung mit den folgenden Protesten diese Initialzündung war, ist im Moment noch nicht abzuschätzen. Auf jeden Fall sind dabei auch Menschen auf die Straße gegangen, denen ganz andere Themen auf den Nägeln brennen: „Nicht Libanon, nicht Palästina“ wollen etwa manche Sprechchöre weiterhin Unterstützung zukommen lassen. Die stete Unterstützung der schiitischen Verbündeten und Milizen stößt vielen Iranern schon lange kräftig auf – vor allem aber, seit nach Abschluss des Atomabkommens 2015 der erwartete Aufschwung durch den Wegfall einiger westlicher Sanktionen nicht so beim Volk ankam, wie es sich das erhofft hatte. Und selbst an den Grundfesten des Staates wird gezündelt: An vielen Orten im Land gingen die allgegenwärtigen Porträts des Obersten Führers Ali Chamenei in Flammen auf.

Wie es weitergeht, kann im Moment wohl niemand belastbar voraussagen. Auf jeden Fall wird die iranische Führung aber nicht darauf zählen können, alle aktuellen Proteste als vom Ausland gelenkte Einzelfälle abtun zu können: Das Internet vergisst nicht, und irgendwann werden die Netzrestriktionen wieder fallen, wenn der Iran nicht wieder in die lähmende Isolation vergangener Jahrzehnte zurückfallen will. Und auch, wenn es dem Regime gelingen sollte, die aktuellen Proteste noch einmal kleinzuhalten, ist der große Knall wahrscheinlich nur aufgeschoben: Mit den Bildern, die bald um die Welt gehen werden, dürfte das zarte Pflänzchen Tourismus wieder auf Jahre ausgerissen sein, und vor der Tür wartet ein Phantom, das alle Iraner – ganz gleich, auf welcher Seite sie stehen – noch weit mehr ängstigt als die „Mutter aller Inflationen“ aus dem Benzinhahn: Steigt die Zahl der Ärmsten, die in Slums rund um die Großstädte ihr Leben fristen, weiter an, ist nach der „Islamischen Revolution“ und denen der vergangenen Jahrzehnte und Tage die wohl folgenreichste zu befürchten: die „Revolution des Brotes“. Und vor der, da sind sich alle Seiten einmal einig, dürfen sich alle gleichermaßen fürchten.

November 2019 im Iran: Ein Monat mit ungewissem Ausgang

2. November

Eine dem Obersten Führer Ali Chamenei nahestehende iranische Zeitung droht Saudi-Arabien mit einem zweiten Anschlag auf Erdölanlagen. Am 14. September waren eine Raffinerie und ein Ölfeld in Saudi-Arabien von Drohnen und Marschflugkörpern getroffen worden. Viele Länder machen hierfür direkt den Iran oder mit dem Iran verbündete Huthi-Rebellen im Jemen verantwortlich.

6. November

Wie angekündigt, vollzieht der Iran den vierten Schritt weg von den Vereinbarungen des internationalen Atomabkommens von 2015, indem es seine Urananreicherung weiter ausbaut. Die Vereinigten Staaten hatten das Abkommen vor mehr als einem Jahr einseitig aufgekündigt, die verbleibenden europäischen Vertragspartner des Iran sind beim Versuch gescheitert, zur Umgehung der weitreichenden US-Sanktionen eine alternative Handelsplattform mit dem Iran aufzubauen. Da das Land somit keinerlei Vorteile mehr aus dem Abkommen hat, das ihm auf Jahre hinaus die Entwicklung einer Atomwaffe unmöglich machen sollte, zieht sich der Iran aus seinen Verpflichtungen aus dem Atomabkommen mehr und mehr zurück.

12. November

Präsident Hassan Ruhani betont die „außergewöhnlich schwierige Situation“ des Landes. Grund dafür seien die Schwierigkeiten aufgrund der US-Sanktionen, die den Verkauf von Öl für den Iran nahezu unmöglich machen. Internationalen Schätzungen zufolge konnte das Land beispielsweise im Juli dieses Jahres pro Tag um die 100.000 Barrel Öl verkaufen – 2016 exportierte der Iran noch um die 2,5 Millionen Barrel Öl pro Tag.

14. November

Während einer Konferenz zur Islamischen Einheit überrascht Präsident Ruhani mit der Feststellung, dass das Land trotz strengster US-Sanktionen nun einen Sieg und ständige Verbesserungen feiert. Die Weltbank prognostiziert dem Land allerdings einen signifikanten Rückgang der Wirtschaftsleistung, eine hohe Arbeitslosigkeit vor allem jüngerer Menschen und eine Inflation von mehr als 20 Prozent.

15. November

Infolge massiver Preiserhöhungen für Benzin kommt es landesweit zu großflächigen Protesten, bei denen zahlreiche Gebäude in Flammen aufgehen. Bis Sonntag wurden mehr als 1000 Demonstranten festgenommen, die Zahl der Toten und Verletzten ist nicht bekannt.