Darmkrebs: Mit Aufklärung die Angst bekämpfen

Es gibt Momente im Leben des Chirurgen Prof. Dr. Samir Said, da ist nicht sein medizinisches Fachwissen gefragt, sondern sein Einfühlungsvermögen. Dann sitzt dem Chefarzt am Koblenzer Stift am Gemeinschaftsklinikum Mittelrhein ein Patient gegenüber, der vor wenigen Tagen die Diagnose Darmkrebs bekommen hat – meist nach einer Koloskopie bei einem Gastroenterologen.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Von unserem Redakteur Christian Kunst

„Diese Patienten sind oft voller Angst. Für sie überschlägt sich dann gerade alles. Denn manche denken, dass dies ihr Todesurteil ist“, sagt der Mediziner. Für Said ist das oft keine einfache Situation – auch wenn es Psychoonkologen gibt, die sich um diese Patienten kümmern. Wenn er darüber redet, dann sagt er Sätze wie: „Das ist dann eine Frage der Empathie, die ein Arzt eben haben sollte.“ Oder er sagt: „Dann versuche ich, dem Patienten Mut zu machen.“

Keine immensen Schmerzen

Doch wie geht das? Jemandem, der eigentlich ein unbeschwertes Leben führt, bei dem jedoch irgendwo in seinem mehrere Meter langen Darm etwas Bösartiges heranwächst, das vielleicht schon in andere Körperregionen, in Leber oder Lymphknoten gestreut hat? Said versucht, gegen dieses Ungetüm Krebs, dieses nach seinen Worten „für Patienten Ultimative, das die Existenz bedrohen kann“, mit dem anzukämpfen, wovon ihm sehr viel zur Verfügung steht: Wissen, Vernunft.

Und man weiß, dass Darmkrebs schon seit vielen Jahren kein Todesurteil mehr ist – vor allem dann, wenn er früh entdeckt wird. Patienten, bei denen ein Tumor der Stadien T1 bis T4 diagnostiziert wurde, ohne dass zugleich Lymphknoten befallen sind, haben eine 80-prozentige Chance, dass sie auch noch in fünf Jahren am Leben sind, sagt Said. Hat der Tumor bereits gestreut, sinkt die Rate bei Lymphknotenbefall auf 60 Prozent, bei Organmetastasen teilweise unter 10 Prozent. Aber gut zu wissen ist, dass selbst bei Lebermetastasen circa 30 Prozent der Patienten operiert werden können. Und von diesen haben 40 bis 60 Prozent die Chance, nach der OP noch mindestens fünf Jahre zu leben.

Doch Mut machen bedeutet für den Koblenzer Mediziner auch, sich mit Prognosen bei Patienten zurückzuhalten: „Das ist reine Statistik, das hat nichts mit der Person zu tun.“ Personalisierte Therapie ist deshalb das Zauberwort bei der Behandlung von Krebspatienten. Alle durchlaufen zwar das gleiche diagnostische Programm. Doch die Behandlung wird individuell und fachübergreifend abgestimmt.

Auch die Diagnostik ist letztlich Teil des „Mutmacherprogramms“: Denn in mehreren Schritten wird abgeklärt, ob der Tumor überhaupt gestreut hat und wie tief er das Gewebe befallen hat. „Darmkrebs allein ist nicht das Problem, sondern die Absiedlungen. Deshalb gibt die Diagnostik den Patienten Klarheit und kann ihnen Hoffnung geben.“ Als erstes durchleuchtet ein Computertomograf (CT) den Bauchbereich, vor allem die Leber. Denn laut Said befinden sich die Metastasen in 75 Prozent der Fälle in der Leber. Es folgt ein CT des Brustkorbs, um den Patienten auf Absiedlungen des Tumors in der Lunge zu überprüfen. Schließlich folgt bei Tumoren im Mastdarm ein MRT des Beckens. Nur so lässt sich prüfen, wie tief sich der Krebs ins Gewebe eingenistet hat und ob eventuell auch Lymphknoten befallen sind. Spätestens zwei Wochen nach der Diagnose folgt schon die Operation.

Nicht nur die mittelfristigen Überlebenschancen sind drastisch gestiegen. Auch die OP ist laut Said immer schonender geworden. Schon nach vier Tagen sind viele Patienten oft wieder auf den Beinen, nach acht bis zehn Tagen können sie die Klinik bereits wieder verlassen. Fast-Track heißt dies im Fachdeutsch. Was aber noch viel wichtiger für Patienten ist, die am Mastdarm operiert werden: Durch den Erhalt von Nerven konnte das Risiko, dass Patienten nach der OP unter Problemen beim Sex oder Wasserlassen leiden, deutlich gesenkt werden – von 80 auf 15 Prozent, berichtet der Koblenzer Arzt.

Das Frappierendste beim Thema Darmkrebs ist jedoch, dass sich die meisten Patienten mit diesen Fragen nie beschäftigen müssen – weil sie gar nicht erst in Saids Arztzimmer landen werden. 99 Prozent der Betroffenen kommen gar nicht erst in die Klinik. Das sagt der Koblenzer Gastroenterologe Dr. Jens Dommermuth. Er spiegelt den Darm von Patienten in seiner Praxis und weiß: „Nur in 20 Prozent der Fälle entdecken wir überhaupt etwas. Bei fast 100 Prozent der Patienten können wir Polypen oder Krebsvorstufen entfernen.“

Angesichts dieser Zahlen ist es für den Koblenzer Experten so unverständlich, warum immer noch so wenige Menschen zur Darmkrebsvorsorge gehen. Die Risiken der Untersuchung sind nach seinen Worten sehr gering: „Die Autofahrt in die Praxis ist das Gefährlichste daran.“ Und viele Patienten sagten ihm nach der Koloskopie: „Wenn ich vorher gewusst hätte, wie wenig aufwendig das ist, hätte ich das schon viel früher gemacht.“ Selbst bei dem für viele Patienten unangenehmsten Teil des Verfahrens, der Darmentleerung, gibt es laut Dommermuth Fortschritte: Musste man früher bis zu vier Liter eines oft ekelig schmeckenden Abführmittels nehmen, reicht heute oft zweimal ein halber Liter, verbunden mit viel Wasser oder Tee.

Informieren statt drängen

Doch Dommermuth und Said sind längst davon abgekommen, Patienten zur Darmkrebsvorsorge zu drängen. „Vom Insistieren zum Informieren“, hat das „Deutsche Ärzteblatt“ jüngst einen Artikel überschrieben, in dem es um einen Paradigmenwechsel beim Umgang mit Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen geht. Angesichts wachsender Kritik etwa an der Mammografie müsse es darum gehen, Patienten über die Chancen und Risiken der Untersuchungen aufzuklären, damit diese selbst entscheiden können, ob sie teilnehmen. Zu Darmspiegelung und Stuhltest heißt es in dem Artikel aber auch: „Die Koloskopie sucht primär nach Vorstufen, betreibt demnach echte Vorsorge. Beide Maßnahmen sind im Gegensatz zu den Früherkennungsuntersuchungen prinzipiell in der Lage, die Zahl der Krebsdiagnosen zu reduzieren, was selbst Fundamentalkritiker überzeugt.“ Christian Kunst