Koblenz

Christian Kunst zur Zeitenwende des Jahres 2022: Es braucht einen Kompass für eine neue Welt

Wenn wir, wie es in diesem Jahr viele von uns erlebt haben, an der Welt verzweifeln, dann lohnt es sich, denen zuzuhören, die aus der tiefen Verzweiflung schon einmal in eine neue Welt gewandert sind. Sie leben mitten unter uns.

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Es sind die Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs, die Flüchtlinge, auch viele Ostdeutsche gehören dazu, deren Leben nach Jahren der Bevormundung auf den Kopf gestellt wurde. All diese Menschen wissen, was es bedeutet, in eine Welt hineingeboren worden zu sein, um plötzlich in einer neuen zurechtkommen zu müssen, ohne die alte schon ganz abstreifen zu können. Ihr Lebens- und oft auch Leidensweg kann für uns alle lehrreich sein, weil unsere Gesellschaft gerade eine ähnlich tiefgreifende, wenn auch weniger abrupt verlaufende Transformation, eine Zeitenwende durchlebt: Wir alle spüren, dass wir aus einer alten, uns vertrauten Welt in eine neue wandern, gerade eher hineinstolpern. Wir schwanken zwischen Angst, Wut, Frustration, mitunter aber auch Neugierde und Aufbruch.

Kompass der Politik

Was es jetzt braucht, ist ein Kompass der Politik, der nicht mehr auf den Antworten von gestern beruhen darf, sondern aus dem fundierten Wissen von heute sowie dem Mut und dem Vertrauen bestehen muss, dass wir die ungewisse Zukunft meistern werden. Doch das Jahr 2022 zeigt, wie sehr die Politik noch im Gestern lebt und dies auch vorlebt. Stichwort Energiewende: So sehr der Ukraine-Krieg für die Menschen schreckliches Leid bedeutet, so segensreich ist der Fingerzeig für die Energiepolitik. Wir sind endlich zu einer ökologischen Zeitenwende gezwungen, um deren Dringlichkeit und Richtigkeit wir seit Jahrzehnten wissen, die wir jedoch lange erfolgreich verdrängt haben.

Und doch hadert die Politik ängstlich und verstrickt sich in neue, klimapolitisch unkluge Abhängigkeiten. Stichwort demografische Krise: Die ebenfalls seit Jahrzehnten absehbare Verrentungswelle der Babyboomer, politisch beschleunigt durch die Rente mit 63, bedroht die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft im Kern. Der Fachkräftemangel untergräbt das Fundament der deutschen Wirtschaft und des Gesundheitssystems. Das Rentensystem wird bald folgen. Wenn man bedenkt, dass dies noch die ersten Wehen der Babyboomer-Krise sind, kann einem angst und bange werden.

Welt ganz neu denken

Wer in diesen stürmischen Zeiten einen Kompass sucht, der findet ihn bislang leider nur sehr bruchstückhaft in der Politik. Dabei ahnen viele von uns, dass wir unsere Welt ganz neu denken und gestalten müssen, weil alles mit allem zusammenhängt. Wir werden anders wohnen, arbeiten, konsumieren, kommunizieren, uns anders fortbewegen. Das Jahr 2022 zeigt, wie sehr es dabei auf jeden Einzelnen ankommt. Menschen können Revolutionen entfachen, wie dies im Iran zu erleben ist, sie können einem militärischen Goliath mit Willenskraft und Unterstützung von Freunden widerstehen, wie die Ukrainer dies beweisen.

Genauso können wir unsere Welt zu einer besseren machen, wenn wir uns auf unsere gemeinsamen Werte besinnen. Oder um Siglinde Krumme aus Winningen, eine 89 Jahre junge Zeitzeugin des Zweiten Weltkriegs, zu zitieren: „Man muss mit dem Herzen leben. Der Mensch an sich ist tolerant. Der Krieg in der Ukraine könnte die Welt besser machen, indem sie bescheidener wird und mit den Ressourcen besser umgeht. Das ist ein Zeichen einer besseren Welt.“

E-Mail: christian.kunst@rhein-zeitung.net