London

Britische Abgeordnete will ins Dschungelcamp – und Sitzungen schwänzen

Es ist ein Mythos, dass die Abgeordneten der „Mutter aller Parlamente“ ein süßes Leben genießen. Im baufälligen neogotischen Palast des Architekten Charles Barry an der Themse sitzen manche britischen Volksvertreter in winzigen fensterlosen Büros, die sie oftmals mit Mäusen teilen müssen.

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Die Arbeitsstunden sind lang, die Spesen längst nicht mehr so großzügig wie früher, dazu genießen die „MPs“ (Members of Parliament) bei den Wählern im Königreich einen schlechteren Ruf als Makler oder Banker.

Die konservative Parlamentarierin Nadine Dorries hatte eine ungewöhnliche Idee: Sie wollte der aufreibenden Tagesroutine entkommen und eine TV-Show mit Prominenten im australischen Dschungel unter anderem dafür nutzen, um eine politische Debatte um kürzere Fristen für Abtreibungen in Großbritannien anzustoßen. Nebenbei hofft die 55-jährige Ex-Krankenschwester darauf, mit dem Honorar in Höhe von etwa 50.000 Euro ihren Jahresverdienst als MP für Mid-Bedfordshire von 81.000 Euro aufzubessern. Doch längst nicht alle ihre Kollegen sind damit einverstanden.

Ein Skandal in Westminster. Die 2002 gestartete Unterhaltungssendung in der Wildnis (deutsche Kopie: „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“) hat durchaus ihre Fans im Regierungslager und in den Reihen der Opposition. Doch hat noch nie ein Abgeordneter einen ganzen Monat lang die Sitzungen im Unterhaus geschwänzt, um ein Star des populären Reality-Dschungels zu werden. Bleibt Dorries lange genug im Camp, verpasst sie eine wichtige Budgetabstimmung in London am 5. Dezember, bei der Premierminister David Cameron jede Tory-Stimme braucht.

Dass die abtrünnige Politikerin vor laufender Kamera Ekelproben bestehen und vielleicht rohe Känguruhoden essen muss, erschien dem obersten Tory-„Einpeitscher“ (chief whip) George Young als eine zu milde Strafe. Er suspendierte am Dienstag ihre Mitgliedschaft in der Fraktion, bis Dorries aus Australien zurückkehre und sich für ihre Abwesenheit rechtfertige. Die Tory-Führung soll vor allem darüber erbost sein, dass der Möchtegern-Fernsehstar niemanden in seine Pläne eingeweiht hatte.

Seit ihrer Wahl 2005 hat sie keine Kontroverse gescheut und kein Blatt vor den Mund genommen. Nadine Dorries glaubt, dass sie als Politikerin eine „göttliche Mission“ erfüllt. Die Skandalnudel nannte die Berichterstattung in den Medien über den Spesenskandal im Parlament 2009 eine „Hexenjagd im Geist der McCarthy-Ära“. Sie drohte damit, das geplante Gesetz über die Homo-Ehe „in die Mülltonne“ zu werfen. Legendär ist Dorries‘ Wutausbruch in einem Fernsehinterview vor sieben Monaten, in dem sie ihren Parteichef und den Finanzminister Osborne „zwei arrogante Schnösel ohne Gnade, Reue und Leidenschaft“ nannte.

Cameron, der die verbalen Angriffe seiner Parteikollegin gewohnt ist, wollte gestern den Skandal nicht kommentieren. Dagegen sparten andere Tories nicht mit bissiger Kritik. „Ich bin entsetzt. Sie macht sich lächerlich und beschmutzt das Ansehen der Politiker“, schimpfte die Abgeordnete Sarah Wollaston. „Offen gesagt, der Job eines Parlamentariers ist in seinem Wahlkreis und im Parlament“, stichelte die konservative Innenministerin Theresa May. Auch die Parteimitglieder im Bezirk Mid-Bedfordshire sind sauer. Dorries‘ Antwort an ihre Kritiker: „Ich habe Angst vor Ratten, aber andererseits muss ich mit ihnen zusammenarbeiten“.

Von unserem London-Korrespondenten Alexei Makartsev