Alice im Märchenland: AfD-Spitzenkandidatin will mit Fakten glänzen – nimmt es mit denselben aber nicht so genau

Von Anne-Beatrice Clasmann
Alice Weidel
Alice Weidel Foto: AfD

Wer Wahlkampfveranstaltungen der AfD besucht, trifft dort Menschen, die sehr wütend sind. Auf die Kanzlerin, die Grünen, die SPD, die Besserverdienenden, die Journalisten, die Gegendemonstranten und auf Zuwanderer, die kein Schweinefleisch essen. Die Wut bleibt nicht im Bauch. „Merkel muss weg“ dröhnt es vielstimmig durch die Säle, in denen sich die Anhänger der Protestpartei versammeln. Stehen draußen vor der Halle Demonstranten mit „Nazis raus“-Plakaten und Trillerpfeifen, schweißt das die Menschen drinnen noch enger zusammen.

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Das Spitzenpersonal der Partei balanciert während dieser Veranstaltungen auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite hilft diese Wagenburgmentalität den Kandidaten, die AfD-Mitglieder zu noch mehr Einsatz im Bundestagswahlkampf zu motivieren. Auf der anderen Seite erschwert es die Suche nach konservativen Wählern außerhalb der Kernanhängerschaft, wenn die AfD in der Öffentlichkeit wie eine verschworene Gemeinschaft von Schreihälsen wahrgenommen wird.

Spitzenkandidatin Alice Weidel präsentiert sich im Wahlkampf gern als Frau der Fakten. In der Talkshow, im großen Saal oder im Hinterzimmer einer Gaststätte: Immer hat sie Zahlen und Fakten parat. Als Unternehmensberaterin weiß sie, wie man sachlich präsentiert und überzeugt. Doch auch ihr rutscht gern auch mal ein „alternativer Fakt“ durch. Bei einer Veranstaltung bei Stuttgart spricht Weidel über Gewaltverbrechen, die von Zuwanderern verübt und ihrer Ansicht nach von der Justiz nicht ausreichend geahndet werden. Sie führt ein besonders abscheuliches Beispiel an: In Hamburg habe eine „Meute von Serben“ im vergangenen Jahr ein Mädchen vergewaltigt. Die Täter, sagt Weidel, hätten „einen Freispruch bekommen“. Die Empörung im Saal ist groß.

Doch Weidels Darstellung stimmt nicht ganz. Zwar kamen vier Jugendliche mit Bewährungsstrafen davon, weil sie sich reumütig zeigten. Doch einen 21-Jährigen schickte der Richter für vier Jahre ins Gefängnis. Außerdem hat der Bundesgerichtshof im Juli entschieden, dass der Fall um die Vergewaltigung erneut vor dem Hamburger Landgericht verhandelt werden muss.

In einem Speiselokal im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf rechnet der Berliner Abgeordnete Thorsten Weiß vor, wie viele Menschen seiner Meinung nach über den Familiennachzug demnächst nach Deutschland kommen könnten. Er sagt: „dann sind das noch einmal zwei Millionen Syrer“. „Pfui Deibel!“, ruft eine Frau mittleren Alters aus dem Publikum. Dieser Rechnung würde die Bundesregierung vermutlich widersprechen. 2016 hatte das Auswärtige Amt zum Familiennachzug für syrische und irakische Flüchtlinge rund 48.000 Visa erteilt. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es etwa 30.000. Doch da die Verantwortlichen Zahlen und Prognosen zum Familiennachzug in den vergangenen Monaten meist nur zögerlich herausgegeben haben, kann die AfD hier Leerstellen besetzen.

Gelacht wird bei diesen Veranstaltungen eher selten, zu groß ist die Wut. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn der Thüringer Fraktionsvorsitzende Björn Höcke die AfD-Direktkandidatin Jeannette Auricht versehentlich als „Ivonne“ anspricht. Schließlich muss er selbst ertragen, dass ihn Satiriker immer wieder „Bernd Höcke“ nennen.

Zu denjenigen, die sich aus der Wagenburg herauswagen, gehört die Spitzenkandidatin der AfD in Berlin, Beatrix von Storch. Die für ihre schrillen Tweets berühmt-berüchtigte Abtreibungsgegnerin traf sich zum Streitgespräch mit dem Rapper Bushido. Von Storch kritisierte Bushidos schwulenfeindliche Texte. Der Deutsche mit tunesischem Vater warf ihr vor, die AfD suche den Erfolg „auf Kosten von Ausländern und Islam-Anhängern“. Trotzdem verabschiedete man sich freundlich.

Weniger freundlich sind AfD-Mitglieder bei Veranstaltungen von Angela Merkel. Ende August stand bei einem Auftritt der Kanzlerin in Bitterfeld auch Hans-Thomas Tillschneider vom rechten Parteiflügel inmitten von Menschen, die sie mit „Hau ab!“-Rufen empfingen. Einem Fernsehreporter sagte er: „Merkel gehört, wie Björn Höcke es gesagt hat, in einer Zwangsjacke aus dem Kanzleramt geführt, und deshalb ist es durchaus legitim, hier auch mal ,Hau ab!' zu rufen.“

Die größte Aufmerksamkeit versprechen aber immer noch die klassischen TV-Formate. Vor allem wenn man, wie kürzlich Alice Weidel, während der laufenden Sendung unter Protest das Studio verlässt. Obwohl die AfD keine Gelegenheit auslässt, über die „Zwangsfinanzierung“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu schimpfen, nehmen Spitzenpolitiker der Partei viele Talkshoweinladungen an. Gerade im Vorfeld der Bundestagswahl böten diese Runden die Möglichkeit, die eigene Position „vor allem in Abgrenzung zu den Mitbewerbern“ einem breiten Publikum näherzubringen, sagt AfD-Chefin Frauke Petry. „Über die Qualität einzelner Formate, auch in Abhängigkeit von Moderatoren, Podiumsgästen und ausgewähltem Publikum, kann man natürlich streiten“, fügt sie etwas spitz hinzu.

Eingeladen werden meist die Spitzenkandidaten. Doch auch Petry und Co-Vorsitzender Jörg Meuthen sind im Wahlkampf aktiv. Meuthen scherzt bei seinen Veranstaltungen, poltert gegen das „Gruselkabinett der Altparteien“ und genießt die Euphorie der Menge. Petrys Auftritte haben weniger Volksfestcharakter. Ihre Beobachtungen sind nüchterner. Sie bilanziert: „Das riesige Interesse an unseren Veranstaltungen war beeindruckend – in Plauen im Vogtland haben an einem Abend 1300 Gäste die Festhalle gefüllt. Das allein ist ein Zeichen für enormen Zuspruch zu unseren Positionen insgesamt.“ Die Besucher ihrer Veranstaltungen hätten vor allem Fragen „nach der Gewährleistung von Sicherheit und nach sozialer Absicherung – vor allem im Alter“ mitgebracht.

Anne-Beatrice Clasmann

Hat die AfD-Politikerin eine syrische Asylbewerberin schwarz beschäftigt?

Die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel hat einen Medienbericht als falsch zurückgewiesen, wonach sie an ihrem Schweizer Wohnsitz eine Asylbewerberin schwarz beschäftigt haben soll.

„Die Zeit“ schrieb, Weidel habe an ihrem Wohnort Biel 2015 zunächst eine Studentin der Islamwissenschaften und danach eine syrische Asylbewerberin als Haushaltshilfe für sich arbeiten lassen. Es habe weder einen Anstellungsvertrag gegeben, noch seien die Frauen um Rechnungstellung gebeten worden; das Gehalt – 25 Franken pro Stunde – sei bar bezahlt worden.

Weidels Anwalt teilte mit, Weidel habe „einen freundschaftlichen Kontakt“ zu einer Syrerin, die auch in ihrem Haus zu Gast gewesen sei. „Dass die Asylbewerberin aber im Hause unserer Mandantin angestellt wurde oder als Angestellte gearbeitet hätte oder aber dafür Lohn bekommen hätte, ist jeweils falsch.“

Alice Weidel lebt mit ihrer Lebenspartnerin, einer aus Sri Lanka stammenden Schweizerin, im schweizerischen Biel. Gemeinsam ziehen sie zwei Söhne groß. Offiziell nennt die AfD-Politikerin die deutsche Ortschaft Überlingen als Wohnort.

AfD-Sprecher Christian Lüth warf der „Zeit“ vor, mit Bezug auf die Studentin zu unterschlagen, dass eine Barzahlung an Haushaltshilfen nach Schweizer Recht legal sei. „Hausangestellte müssen nur dann bei der kantonalen Ausgleichskasse angemeldet werden, wenn ihr Lohn im Jahr 750 Franken übersteigt. Löhne unter dieser Grenze sind beitragsfrei und nicht meldepflichtig.“

Weidel schreibt in ihrem Facebook-Profil: „Ja, wir sind nunmehr seit Jahren mit einer syrischen Flüchtlingsfamilie befreundet. Das ‚Doppelleben‘ oder besser die ‚Doppelmoral‘ der Alice Weidel. Zum Totlachen, wenn den Gutmenschen nichts mehr einfällt.“

AfD-Wähler – wie hier bei einer Veranstaltung mit Spitzenkandidat Alexander Gauland – fürchten, auf der Strecke zu bleiben.
AfD-Wähler – wie hier bei einer Veranstaltung mit Spitzenkandidat Alexander Gauland – fürchten, auf der Strecke zu bleiben.
Foto: dpa

Die pessimistische Mitte

80 Prozent der Deutschen verorten sich in der politischen Mitte – das ist die gute Nachricht einer Studie der Bertelsmann Stiftung. Ganze 44 Prozent bekennen sich zum Mitte-links-Lager. Aber: 7 Prozent der Befragten orientieren sich politisch nach rechts. Damit ist zugleich das Wählerpotenzial der AfD erfasst – mit Luft nach oben. Platz drei ist das Ziel, das die AfD sich für diese Bundestagswahl gegeben hat. Die Wählerumfrage von ARD-„Deutschlandtrend“ sieht die AfD bereits bei 12 Prozent – nur noch 8 Prozentpunkte hinter der SPD, die bei 20 Prozent landet. Wer sind die Menschen, die AfD wählen?

Die AfD selbst bezeichnet sich als „Partei der kleinen Leute“ – also als Partei der wirtschaftlich Abgehängten, der Arbeitslosen, der Arbeiter. Doch laut Kölner Institut der deutschen Wirtschaft lag das durchschnittliche Nettoeinkommen der AfD-Sympathisanten 2014 bei knapp 2500 Euro im Monat – und damit 500 Euro über dem Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung. 2015 waren es immer noch überdurchschnittliche 2200 Euro. Das heißt: Die AfD ist eine Partei der Durchschnittsverdiener und rekrutiert sich nicht (nur) aus dem Milieu der Sozialverlierer. Die meisten potenziellen AfD-Wähler machen sich deshalb aktuell auch kaum Sorgen um ihren Arbeitsplatz und leiden keine wirtschaftliche Not. Soziodemografisch ist die AfD laut Knut Germann, Matthias Diermeier und Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft längst eine Partei der Mitte. Das Potenzial von Arbeitern und Arbeitslosen in Deutschland ist viel zu klein, um die Hauptwählerschaft zu stellen.

Aber: Offenbar gibt es bei AfD-Anhängern eine große Kluft zwischen ihrem faktischen Wohlstand und einem gefühlten Unrecht. 38 Prozent von ihnen meinen, sie gehörten zu denen, die auf der Strecke bleiben, während es vielen anderen in Deutschland immer besser gehe. Sie empfinden sich als einflusslos und fremdbestimmt. „Ihr Denken ist gekennzeichnet von Krisenszenarien und Katastrophenängsten“, sagen Germann, Diermeier und Niehues. „Wer meint, über keine Alternative zu verfügen, fühlt sich ausgeliefert.“ Der starke Pessimismus bezieht sich vor allem auf die Zuwanderung und die allgemeine, nicht aber die persönliche wirtschaftliche Situation. Die Wissenschaftler aus Köln formulieren deshalb die Alternative für Deutschland um. Die AfD ist für sie eine Partei der sich „ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener“, die ihr Heil in einer nationalkonservativen Politik sucht.

Die AfD profitiert also insgesamt von einer diffusen Verunsicherung in der Gesellschaft und einem generellen Frust gegenüber Parteien und Politikern. Verstärkt wird das Phänomen durch eine abnehmende Bindung der Wähler an eine bestimmte Partei.

Vor allem die unter Angela Merkel modernisierte CDU hat ein Vakuum im rechten Flügel entstehen lassen. Die CSU hat darauf inzwischen mit der Obergrenzen-Debatte reagiert, innerhalb der Union wird über ein Islamgesetz, ein Burka-Verbot und die doppelte Staatsbürgerschaft diskutiert. Die gewerkschaftsnahe Otto-Brenner-Stiftung in Frankfurt stellt fest, dass die etablierten Parteien spätestens seit Sommer 2016 mit einer Verschärfung ihrer asylpolitischen Forderungen und Rhetorik reagiert haben, und folgert, dass die AfD „die verunsicherte bürgerliche Mitte als potenzielles Wählersegment zu verlieren scheint“.

Die Partei versucht unter ihrer Chefin Frauke Petry seit 2016 verstärkt, völkische Vorstellungen gesellschaftsfähig zu machen. Entsprechend heißt es im Bundestagswahlprogramm: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiv identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte umfasst.“

Der programmatische Rechtsschwenk kann die AfD laut Otto-Brenner-Stiftung mehr und mehr an den Rand des Parteienspektrums drängen, wo sie „das gleiche Schicksal wie NPD, Republikaner und die Schill-Partei ereilen könnte“. Es sei denn, die AfD strebt, wie vom Petry-Lager gefordert, eine Koalitionsfähigkeit an.

Selbst Spitzenkandidat Alexander Gauland – der Rechtsaußen war bisher ein Befürworter der Radikal-Opposition – signalisierte jetzt, er würde gern einmal mit der CDU zusammen regieren. Als potenzielle Partner nannte er die rheinland-pfälzische CDU-Chefin Julia Klöckner und Finanzstaatssekretär Jens Spahn. Zumindest Klöckner lehnte entsetzt ab.

Von unserer Redakteurin Birgit Pielen