Umstrittene Gesetzesänderung brachte Millionen um einen Teil des Ersparten: Die Schrumpf-Betriebsrente

Von Birgit Marschall, Jörg Hilpert
Die Schrumpf-Betriebsrente Foto: magele-picture - stock.adobe.com

Sie nennen sich „Direktversicherungsgeschädigte“, seit Jahren landen ihre Briefe auf den Schreibtischen der Abgeordneten aller Parteien – jetzt ist politisch etwas in Bewegung gekommen: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten ab dem 1. Januar 2020 halbieren. Das würde den „Geschädigten“ zumindest ein wenig helfen.

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Hintergrund des Spahn-Vorstoßes ist eine ziemlich verstolperte Gesetzesänderung, die 2004 in Kraft trat, deren Tragweite aber vielen Betroffenen erst sehr spät bewusst wurde. Und die Rede ist hier von rund sechs Millionen Menschen.

Angestoßen hatte das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GMG) die damalige Gesundheitsministerin in der rot-grünen Bundesregierung, Ulla Schmidt (SPD). „Modern“ im Sinne von aktuell war damals vor allem, dass die gesetzliche Krankenversicherung rote Zahlen schrieb. Auf der Suche nach neuen Beitragsquellen fielen die Betriebsrentner ins Auge: Sie sollten künftig die vollen Krankenkassenbeiträge zahlen, also Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil. Viele nennen dies „Doppelverbeitragung“.

Gesetz galt rückwirkend

Zuvor war nur der halbe Satz fällig, wie es im Berufsleben oder bei der gesetzlichen Rente ja auch üblich ist. Wer sich das Angesparte auf einmal auszahlen ließ, also nicht in Form einer Rente, kam sogar ganz beitragsfrei davon – hier wirkt sich die Gesetzesänderung besonders gravierend aus. Was die „Direktversicherungsgeschädigten“ aber vor allem empört, auch weil sie anscheinend niemand darauf hingewiesen hatte: Die Regelung galt nicht etwa nur für neu abgeschlossene Verträge, sondern auch für jene, die bereits in den 70er- oder 80er-Jahren unterzeichnet worden waren. Die mit Freude erwartete – und manchmal für die Schlussrate der Hausfinanzierung fest einkalkulierte – Auszahlung des Angesparten reduzierte sich beim Renteneintritt also massiv. Es geht da rasch um fünfstellige Beträge.

Ein Leser unserer Zeitung war damals aufmerksam: Nachdem wir Ende 2003 über die gesetzliche Änderung berichtet hatten, fasste er bei seinem Steuerberater nach. Der beruhigte mit den Worten: „Sie haben einen Altvertrag vor 2004 – da gilt Bestandsschutz.“ Doch das Rückwirkungsverbot griff diesmal nicht. Seinem Steuerberater macht der Leser dennoch keinen Vorwurf: „Viele Auswirkungen des Gesetzes sind auch heute noch Politikern nicht bewusst, obwohl diese seinerzeit für das Gesetz gestimmt hatten.“

Problem erkannt – noch nicht gebannt

Jens Spahn ist sich des Problems jedoch inzwischen bewusst. Er will handeln, auch deshalb, weil die Krankenkassen mittlerweile wieder über üppige Reserven verfügen. Doch seine Pläne sind teuer – er beziffert das Volumen auf rund 3 Milliarden Euro. Den Großteil davon will er aus Steuermitteln finanzieren, nämlich 2,5 Milliarden Euro. Den Rest, also 500 Millionen Euro, sollen die Kassen tragen.

Olaf Scholz, SPD-Finanzminister, stellt sich aber quer. Er will keine 2,5 Milliarden Euro lockermachen, zumal sich angesichts der plötzlich fragilen Wirtschaftslage und teurer Regierungsvorhaben potenziell ohnehin schon neue Löcher in seinem Haushalt auftun. Der Finanzminister teile zwar das Anliegen, die Doppelverbeitragung abzuschaffen, sagte Scholz' Sprecher deshalb nach Spahns Vorstoß. „Allerdings ist der Finanzierungsvorschlag des Bundesgesundheitsministers nicht überzeugend.“

Schlimmer noch für Jens Spahn und die Betroffenen: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat sich an Scholz' Seite gestellt und mögliche Entlastungen erst einmal ausgebremst – angesichts hoher Kosten. Im Koalitionsvertrag sei eine Entlastung nicht vereinbart, so Vizeregierungssprecherin Ulrike Demmer. Bevor weitere kostenintensive Projekte diskutiert würden, gelte es erst einmal, die im Koalitionsvertrag vereinbarten Projekte anzugehen. Demmer sprach von einer kontroversen Diskussion. „Für jeden der Vorschläge gilt allerdings, dass sie relativ kostspielig sind.“

Politiker von SPD und Union suchen dennoch weiter nach einer Möglichkeit zur Entlastung der Betriebsrentner. „Wir sind nach wie vor im Gespräch und werden nicht aufgeben, eine Lösung zu erreichen“, sagte etwa der stellvertretende SPD-Fraktionschef Karl Lauterbach dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Lauterbach hatte Ende Januar betont, die SPD werde darauf bestehen, dass die Entlastung kommt – aber komplett bezahlt aus Mitteln der Kassenrücklagen. Offenbar will er damit sicherstellen, dass auch die Arbeitgeber zur Kasse gebeten werden, die ja die Hälfte der Beiträge aus den Löhnen tragen müssen.

Spahn hatte auch auf einen Parteitagsbeschluss der CDU verwiesen, wonach die Beitragszahler die finanziellen Folgen nicht allein schultern sollten. Die betriebliche Altersvorsorge attraktiver zu machen, sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Genau hier liegt auch das Kernmotiv von Jens Spahn, jetzt eine Änderung anzustreben: Was mit den Millionen „Direktversicherungsgeschädigten“ geschah, könnte viele jetzige Arbeitnehmer von der Betriebsrente abschrecken. Weil es allerdings zunehmend schwieriger wird, das Niveau der gesetzlichen Rente zu halten, sollen die Arbeitnehmer auch in die betriebliche Altersvorsorge einsteigen. Aber dann muss politisch dafür gesorgt werden, dass sich das Modell am Ende wirklich auszahlt.

Kanzlerin muss noch überzeugt werden

Dies hat jüngst weitere Unionspolitiker dazu bewegt, dem Gesundheitsminister unter die Arme zu greifen. Die Kanzlerin solle ihren Widerstand aufgeben, lautet die Forderung, die weite Teile der Unionsfraktion im Bundestag mittragen. Carsten Linnemann, Chef der Mittelstandsvereinigung von CDU und CSU (MIT), sagt ganz offen und in aller Klarheit: „Ohne Beitragsentlastung wird die betriebliche Altersvorsorge nicht mehr auf die Beine kommen.“

Eines scheint übrigens ausgeschlossen: Dass Spahns Entlastungsplan auch rückwirkend angewandt wird, wofür es gute Gründe gäbe – schließlich sind bei seit 2004 laufenden Renten schon jede Menge Beiträge angefallen. Doch die rückwirkende Entlastung würde dem CSU-Experten Max Straubinger zufolge 37 Milliarden Euro kosten. Und da gilt dann wohl wirklich, was Merkel angeblich schon zur kleinen Variante gesagt hat: „Das geht nicht.“

Von Birgit Marschall und Jörg Hilpert

Kommentar: Die Betriebsrente muss dringend ausgebaut werden

Arbeitnehmer sollen fürs Alter sparen, weil die gesetzliche Rente allenfalls die Hälfte der Summe einbringt, die zur Finanzierung des Lebensunterhalts im Ruhestand nötig wird. Doch kommt es zur ersten Auszahlung einer Betriebsrente oder einer Direktversicherung, erleben viele erst einmal eine böse Überraschung: Die Betriebsrente fällt netto geringer aus als erwartet, weil von ihr gleich wieder der volle Krankenkassenbeitrag abgezogen wird. Die Betroffenen empfinden das zu Recht als ungerecht, schließlich wird auf die gesetzliche Rente – wie bei Arbeitnehmern im Erwerbsleben auch – jeweils nur der halbe Beitragssatz fällig.

Birgit Marschall zur Altersvorsorge

Seit Jahren hatten sich zwar unterschiedliche Parteien für die Abschaffung dieser Doppelverbeitragung stark gemacht, doch geschehen ist nichts. Dabei hätte es beste Voraussetzungen gegeben: Seit 2010 gab es einen Beschäftigungsrekord nach dem anderen, die Kassen der Krankenversicherung waren gut gefüllt, und sie sind es derzeit trotz einer schwächeren konjunkturellen Entwicklung immer noch.

Doch auch in dieser Legislaturperiode ist selbst eine nur teilweise Entlastung der Betriebsrentner nicht zu erwarten. Erst war es Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich dagegen ausgesprochen hat, weil dafür im Koalitionsvertrag kein Geld vorgesehen sei. Neben Merkel sind aber auch andere in der Union skeptisch: Sie können bei der Sache nur verlieren, so ihr Kalkül. Denn würden nur die künftigen Betriebsrentner entlastet, sähen sich alle betrogen, die seit 2004 schon draufgezahlt haben. Und würden die künftigen Betriebsrentner entlastet, sähen sich wiederum die jüngeren Beitrags- und Steuerzahler ungerecht behandelt, weil sie die Entlastung weit überwiegend finanzieren müssten.

Dennoch ist die Abschaffung des doppelten Beitrags überfällig – und zwar aus einem einzigen Grund: Die betriebliche Altersvorsorge muss in Zukunft für die Arbeitnehmer attraktiver werden, damit künftige Rentnergenerationen besser abgesichert sind. Wird der 2004 von der damaligen rot-grünen Regierung eingeführte doppelte Krankenkassenbeitrag nicht wieder abgeschafft, dürfte das Interesse vieler Arbeitnehmer an der betrieblichen Altersversorgung gering bleiben.

Der doppelte Beitrag dürfte auch ein Grund dafür sein, dass viele Beschäftigte gegenüber ihrem Arbeitgeber zu wenig auf eine Betriebsrente pochen. Sie muss aber als zweite oder dritte Säule der Altersversorgung angesichts der Rentenentwicklung dringend ausgebaut werden. Deshalb wäre eine auch nur geringe Entlastung künftiger Betriebsrentner nötig, und zwar aus Steuermitteln. Auch bei knapperer Haushaltslage wird die eine Milliarde Euro pro Jahr noch zu finden sein, die das voraussichtlich kosten würde.

Eine „Doppelverbeitragung“ im doppelten Sinne?

Der Begriff Doppelverbeitragung, der im Zusammenhang mit den Problemen rund um die Betriebsrenten häufig fällt, wird offenbar in zweifacher Bedeutung verwendet und ist deshalb durchaus missverständlich. Manche meinen damit, dass die Betriebsrentner sowohl den Arbeitnehmer- als auch den Arbeitgeberanteil für Kranken- und Pflegeversicherung zahlen müssen – also doppelt so viel wie bei der Gesetzlichen Rente. Dort ist es nämlich so, dass die Rentenkasse die eine Hälfte übernimmt.

Bei der Betriebsrente kreist der Streit im Kern nun gerade darum, wer denn hier diese Hälfte zahlen könnte, um die Ruheständler zu entlasten. Dass es in einem anderen Sinne noch eine weit gravierendere Doppelverbeitragung zu geben scheint, schildert ein Leser unserer Zeitung, der früher Personalleiter eines Konzernbetriebs war. In seinem Unternehmen wurde die Entgeltumwandlung in einen Versicherungsbeitrag monatlich abgerechnet – und dabei wurde pflichtgemäß auch der Sozialversicherungsanteil abgeführt, berichtet er. Wenn nun aber im Alter auf das ausgezahlte Kapital wieder die Krankenkasse zugreift, werden die Beiträge praktisch noch einmal, also doppelt, bezahlt.
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