Berlin

Strom trotz Atomkraft? Industrie fordert massiven Neubau von Gaskraftwerken

Von Redaktion
Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht Licht am Horizont der Energiewende. Auch ohne Strom aus Kernkraftwerken sei die Versorgung auf längere Sicht sicher, lautet das Ergebnis. Pessimistischer ist die deutsche Industrie und ruft nach mehr Erdgaskraftwerken.  Foto: dpa
Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sieht Licht am Horizont der Energiewende. Auch ohne Strom aus Kernkraftwerken sei die Versorgung auf längere Sicht sicher, lautet das Ergebnis. Pessimistischer ist die deutsche Industrie und ruft nach mehr Erdgaskraftwerken. Foto: dpa

Die Stromversorgung in Deutschland wird einer Studie zufolge auch nach der geplanten Abschaltung der verbleibenden sechs Atomkraftwerke im kommenden Jahr gesichert sein. Das geht aus einer Untersuchung hervor, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) am Mittwoch vorstellte.

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Das Team, zu dem auch die Energieexpertin Claudia Kemfert gehört, kommt zu dem Schluss, dass auch nach dem vollendeten Atomausstieg Ende 2022 „ausreichende Kapazitäten“ da seien, um die Energieversorgung in Deutschland zu sichern. So habe die deutsche Stromwirtschaft im vergangenen Jahr mit 20 Terawattstunden etwa 4 Prozent ihrer Stromproduktion exportiert, schreiben die DIW-Experten.

Auch wegen der Einbindung Deutschlands in das europäische Stromsystem seien „keine Beeinträchtigungen der Versorgungssicherheit zu befürchten“, heißt es weiter. Die Wissenschaftler um Kemfert werben dafür, den Atomausstieg zu vollenden, alle Subventionen für Kernenergie zu streichen und sich auf die Suche nach einem Endlager für die entstandenen hoch radioaktiven Abfälle zu konzentrieren. Dafür sei die Abschaltung der Atommeiler eine „Notwendigkeit“.

Mit dem Atomausstieg 2022 besiegelt Deutschland eine Entscheidung aus dem Jahr 2011. Jüngst hatte es immer wieder Diskussionen über ein mögliches Wiederaufleben der Kernenergie gegeben. Kritiker befürchten Versorgungsengpässe, wenn Deutschland auch noch vor 2038 aus der Kohleverstromung aussteigt.

Erneuerbare schneller ausbauen

Die DIW-Experten halten diese Befürchtung für unnötig: „Nachdem die Abschaltung älterer Kernkraftwerke seit 2011 weitgehend lautlos erfolgte, ist auch für die nächsten beiden Jahre nur mit geringen Auswirkungen auf das Stromsystem zu rechnen.“ Erneuerbare Energien müssten aber schneller als bisher ausgebaut werden.

Die Ökonomen kommen zu dem Schluss, dass der Rückgang der Kernkraft übergangsweise zu einem höheren Einsatz von fossilen Energien sowie Importen führt, was die CO2-Emissionen kurzfristig ansteigen lässt. Diese dürften aber durch den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien rasch zurückgeführt werden.

Die Versorgungssicherheit sei auch mittelfristig nicht gefährdet, wenn das deutsche Stromsystem „rasch auf erneuerbare Energieträger in Verbindung mit Speichern und Flexibilitätsoptionen“ umsteige.

Neue Gaskraftwerke notwendig?

Die deutsche Industrie hält dagegen in den kommenden Jahren einen massiven Zubau von Gaskraftwerken als Übergangstechnologie für notwendig. Industriepräsident Siegfried Russwurm sprach am Dienstag bei einem Klimakongress des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) von einem Zubau von 43 Gigawatt an Gaskraftwerken bis 2030. „Das ist richtig viel.“ Die Gaskraftwerke sollten mit Erdgas betrieben und später auf grünen Wasserstoff umgestellt werden. Die neue Regierung müsse den Bau neuer Gaskraftwerke schnell beschließen.

Dies ist aber umstritten. Im Grünen-Wahlprogramm etwa heißt es, neue Gaskraftwerke und Infrastruktur dürfe es nur geben, wenn sie „aktuell zwingend“ notwendig seien und bereits „Wasserstoff-ready“ geplant und gebaut werden. Einig sind sich Industrie und Umweltschützer aber, dass die Infrastruktur für erneuerbare Energien schneller und massiv ausgebaut werden muss.

Kommentar zur Energiezukunft: Für Erdgas und Benzin kommt Wasserstoffwirtschaft viel zu spät

BMW baut wegen großer Nachfrage weiterhin einen Dreiliter-Sechszylindermotor in ein Kompaktauto ein, Mercedes bringt die geländegängige Version der C-Klasse nur mit Diesel- oder Benzinmotor auf den Markt. Und die deutsche Industrie fordert mehr Erdgaskraftwerke. Ende der fossilen Verbrennung? Klimaziele? Fehlanzeige!

Teilen der deutschen Autoindustrie darf man das unterstellen. Ihr Einfluss ist so groß, dass die Nochbundesregierung dem Verbrennerausstieg bei der Weltklimakonferenz in Glasgow nicht zugestimmt hat: Man wolle sich den Weg für synthetische Kraftstoffe offenhalten. Ähnlich argumentieren auch die Erdgasfans: Es sei als Brückentechnologie unverzichtbar. Man könne ja später auf Wasserstoff umsteigen.

Während Verbrennungsmotoren in Autos wohl bald aussterben werden und die heutigen Käufer von Benzinkutschen dann die Quittung in Form niedriger Restwerte ihrer Autos erhalten werden, ist es beim Erdgas komplizierter. Dass es neben Wind und Sonne noch weitere Energieerzeuger in Zeiten widriger Witterung geben muss, ist unbestritten. Gaskraftwerke sind leistungsfähig, schnell regelbar und sauberer als Kohle. Man wird sie noch längere Zeit brauchen.

Aber mehr als ein Lückenbüßer kann diese Technik nicht werden. Die spätere Umstellung auf Öko-Wasserstoff ist technisch machbar, aber woher soll das Gas kommen? Noch fehlen Großanlagen zur Erzeugung. Im Oktober ist eine erste Hydrolyse-Kleinanlage im Emsland in Betrieb gegangen. Sie erzeugt pro Woche so viel Wasserstoff, wie ein Großflugzeug in ein bis zwei Stunden verbrauchen würde. Bis einmal genug von diesem flüchtigen Gas für Kraftwerke zur Verfügung steht oder gar für Heizungen oder synthetisches Benzin, vergehen noch Jahrzehnte. Diese Technik kommt zu spät. Hätte man vor 30 oder 40 Jahren auf die Wissenschaftler gehört, die vor dem Klimawandel warnten und damals mit den Vorbereitungen begonnen, wäre eine solche Technologie noch machbar gewesen. Jetzt darf Erdgas nur noch als Notfalltechnik bleiben. Rückgrat der Stromerzeugung kann es nicht mehr werden.

E-Mail: jochen.magnus@rhein-zeitung.net

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