Wie groß ist die Mauer im Kopf, Jürgen Falter?

Jürgen Falter zur Deutschen Wiederverinigung. Foto: Thomas Hartmann/JGU
Jürgen Falter zur Deutschen Wiederverinigung. Foto: Thomas Hartmann/JGU

Deutschland ist Jahrzehnte nach dem Mauerfall „entsetzlich uneinig“, sagt der Mainzer Politikwissenschaftler Prof. Jürgen Falter. Neben extremen Unterschieden in der politischen Kultur habe sich ein Minderwertigkeitskomplex in Teilen des Ostens kultiviert, der auf lange Sicht schwer zu überbrücken sein wird – und der nur ein Grund für die Bereitschaft zur „Denkzettelwahl“ ist.

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Herr Falter, wie anders tickt der Osten 29 Jahre nach dem Mauerfall?

Es gibt nach wie vor gravierende Unterschiede in der politischen Kultur von Ost und West. Die Nachwehen der Wiedervereinigung sind bis heute spürbar. Ich habe die ersten zwölf Jahre nach der Wende intensiv erforscht. Ex-DDR-Bürger formulierten damals gänzlich andere Erwartungen an den Staat als Westbürger. Im Osten träumte man vom Wohlfahrtsstaat nach schwedischem Modell: der Staat als Kümmerer. Gleichheit wurde als höherwertig angesehen als Freiheit. Hinzu kam, dass es im Osten nach der Wende doppelt so hohe Zustimmung zur Aussage „In bestimmten Situationen ist eine Diktatur die bessere Lösung als die Demokratie“ gab als in Westdeutschland.

Und wie wird dieser Mentalitätsunterschied noch heute sichtbar?

In Form eines Minderwertigkeitskomplexes. Im Osten scheint das Gefühl präsent, dem Westen unterlegen zu sein und bevormundet zu werden.

Also ist eine breite Aufarbeitung der Nachwendezeit dringlich?

Nein, das finde ich übertrieben. Aber man muss versuchen zu verstehen, woher die Erfolge von AfD und Pegida gerade im Osten rühren und warum sie im Süden der Ex-DDR so stark sind. Was stimmt, ist, dass eine Breitendiskussion über die Nachwendezeit gefehlt hat. Sie hat nur punktuell stattgefunden, etwa wenn DVU oder NPD in Landtagen saßen. Erst seitdem die AfD in einigen ostdeutschen Bundesländern zur Mehrheitspartei werden könnte, ist die Debatte nachhaltig.

Welche Gründe sehen Sie für die Zustimmung zu AfD und Pegida, deren Ableger sich vor allem im Osten gehalten haben?

In sehe in Sachsen die Tendenz zur Protestwahl und vorgelagerten Erscheinungen wie Pegida auch durch die Austragungsform des politischen Streits bestimmt. Parteien stehen sich hier stärker ideologisiert gegenüber als in den meisten westlichen Bundesländern. Einerseits dominiert die lang allein herrschende CDU noch immer, andererseits wird die Linke als zweitstärkste Kraft von der CDU kategorisch abgelehnt. Zwischen diesen verhärteten Fronten öffnet sich eine Lücke für die AfD und die Bereitschaft zur Denkzettelwahl.

Ist das Misstrauen in die Demokratie im Osten größer? Wenn ja, warum?

Das würde ich bejahen. Viele Biografien wurden im Vereinigungsprozess gewissermaßen lädiert, Erwartungen sind unerfüllt geblieben. Zudem war man plötzlich zum eigenständigen Handeln getrieben, was einem fremd war, weil ein autoritärer Staat zuvor viele Entscheidungen für einen traf. Und: Junge Menschen haben zu Millionen das Land verlassen. Die Landflucht ist noch heute im Osten stärker als im Westen. Das alles trägt dazu bei, dass man sich als Bürger zweiter Klasse fühlt. Das ist in erster Linie ein reines Selbstimage; formal sind alle Bürger gleichberechtigt, aber natürlich nicht gleichgestellt. Doch im Osten ist die Wahrnehmung eine andere. Nicht nur die Zentren des wirtschaftlichen Lebens sind im Westen, sondern auch die meisten Verbündeten Deutschlands. Der Osten begreift sich als Peripherie, und die Peripherie hat immer schon einen Groll gegen das Zentrum gehabt. Inmitten dieser Gemengelage wächst das Gefühl, dass die Zeit im eigenen Ort stillsteht, während sich ringsum alles rasend schnell entwickelt, man aber nicht mithalten kann oder will.

Kann dieser Mentalitätskonflikt überhaupt überbrückt werden?

Das ist schwierig. Einstellungen und subjektive Wahrnehmungen zu verändern, ist nicht leicht. Ich würde auf ein anderes Rezept setzen. Strukturschwache Landstriche dürfen nicht weiter ausgedünnt werden. Das ist im Zuge von Verwaltungsreformen vielfach geschehen. Manche Kreisreform war regelrecht töricht, weil so Großkreise entstanden sind, durch die einzelne Gebiete noch stärker in die Peripherie gedrängt wurden. In Rheinland-Pfalz wurden ähnliche Tendenzen durch gezielte Konversionspolitik zumindest tendenziell aufgefangen. Genau das braucht es auch im Osten – eine Politik, die auch den Menschen auf dem flachen Land eine Perspektive gibt.

Hätte im Wiedervereinigungsprozess etwas anders laufen müssen?

Es hätte vieles anders laufen können, aber die Wiedervereinigung war ein so gigantisches gesellschaftliches, wirtschaftliches Experiment, dass man doch sagen muss, dass es ganz gut verlaufen ist. Das Negativszenario wäre gewesen, dass nicht in den Osten investiert worden wäre, weder in die Infrastruktur noch in die Städte. Natürlich gab es die westlichen Beutemacher, die Leute kollektiv reingelegt haben. Das hat viel negative Energie geweckt. In Sachen Treuhand bin ich mir nicht sicher, wie man es hätte anders gestalten können. Die weitaus meisten DDR-Betriebe waren nicht weltmarktfähig. Sicher hätte man länger subventionieren können, um Arbeitsplätze zu erhalten – das wäre vielleicht besser gewesen als die schnelle Abwicklung. Andererseits hätte ein weniger rasanter Umbruch auch zur weiteren Entvölkerung des Ostens führen können. Genau das wollte man aber verhindern, dass es Menschen auf Jahrzehnte schlecht geht.

Wie groß ist die Gefahr, dass Ost und West in dieser Debatte gegeneinander ausgespielt werden?

Das Spaltpotenzial ist unzweifelhaft gegeben. Ich empfinde es aber nicht als wirklich bedrohlich. Es sollte verhindert werden, dass strukturschwache Regionen im Westen in eine Neiddebatte verfallen. Ein Problem von Dauer ist die Wahrnehmung einer kollektiven Benachteiligung im Osten. Nehmen wir das Beispiel Rente: Wer im Osten nach 1990 in Dauerarbeitslosigkeit verfallen ist, weil Berufsbilder nicht mehr existierten, hat nun mit einer kleinen Rente zu kämpfen. Auch im Westen gab und gibt es natürlich Fälle von Langzeitarbeitslosigkeit, aber diese sind eher individueller Natur, etwa durch Krankheit bestimmt. Im Osten haben wir es mit einer anderen kollektiven Biografie zu tun. Das führt dazu, dass die unterschiedliche Entwicklung als eine Geringschätzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe wahrgenommen wird und nicht als Benachteiligung aufgrund einer gebrochenen, individuellen Biografie. Das stärkt den angesprochenen Minderwertigkeitskomplex.

Wie einig sind wir im Jahr 2018?

Entsetzlich uneinig. Aber das hat weniger mit Ost und West zu tun, sondern mit der Entscheidung Angela Merkels, 2015/16 die Grenzen offenzuhalten. So hat sie unwillentlich einen Keil in die Gesellschaft getrieben, sie in Befürworter der Willkommenskultur und Skeptiker gespalten. Von Letzterem profitiert die AfD – aber nicht nur im Osten.

Das Gespräch führte Melanie Schröder