Mangelnde Medienkompetenz: Wie aus Parolen im Netz eine Hetzjagd wird

Eine aus dem Takt geratene Mediengesellschaft: Die Stuttgarter Polizei bittet darum, von weiteren Meldungen abzusehen.  Foto: Polizei
Eine aus dem Takt geratene Mediengesellschaft: Die Stuttgarter Polizei bittet darum, von weiteren Meldungen abzusehen. Foto: Polizei

Ein junger Mann verschickt ein Video, auf dem er einen Welpen schlägt. Als die Polizei davon erfährt, bringt sie das Tier in Sicherheit und geht gegen den Tierquäler vor. Doch die weitaus dramatischeren Folgen bekommt der Mann erst Wochen später zu spüren. Dann landet das Video im Netz – und löst eine regelrechte Hetzjagd im Internet aus.

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Von unserem Digitalchef Marcus Schwarze

Auf den Facebook-Seiten unter anderem bei der Rhein-Zeitung kommentieren zahlreiche Nutzer die Vorgänge. Forderungen nach der Todesstrafe für den angeblichen Täter werden immer wieder laut, einzelne Teilnehmer nennen ihn beim Namen und fragen nach seiner Adresse. Andere verbreiten ein Foto des vermeintlichen Täters. Irgendjemand hat das Bild so manipuliert, dass er zusammengeschlagen aussieht. Auch dieses Bild macht die Runde.

Geschäftemacher wollen profitieren

Einzelne Geschäftemacher nutzen die öffentliche Empörung, um neue Facebook-Seiten mit vielen Fans zu erzeugen. Mehr als 100.000 Likes (Gefällt mir) zählte jene Seite, die die Todesstrafe für den mutmaßlichen Täter forderte. Sie sollte nicht die einzige dieser Art bleiben: Eine andere Seite versammelt Videos weiterer offensichtlicher Misshandlungen. In einem Fall malträtiert eine Frau ein weinendes Kind über Minuten hinweg mit einem Kissen und mit der Hand. Herkunft und Zeitpunkt der Misshandlungen sind unklar. „Erhängen vor der versammelten Familie, aber beide“, fordert da anschließend jemand als Strafe für die Frau und denjenigen, der die Kamera hält. Zahlreiche Nutzer versehen die Seite mit ihren drastischen Strafforderungen mit einem Like.

Wir bei der Rhein-Zeitung verfolgen die öffentlichen Reaktionen vieler Facebook-Teilnehmer mit einem unguten Gefühl. Aufrufe zur Gewalt gegen den mutmaßlichen Täter verbergen wir, ebenso Beiträge, in denen sein Name genannt wird. Selbstverständlich halten auch wir die auf dem Video gezeigte Tat für besonders verwerflich. Doch vertrauen wir in den Rechtsstaat und in die Polizei, die in der Sache ermittelt. Und berichten weiter.

Aufrufe zur Selbstjustiz

Die Aufrufe zur Selbstjustiz gehen bei Facebook weiter, werden stark verbreitet. Sie werden auch verbreitet auf Seiten, für die keine Zeitungsredaktion im Hintergrund Arbeitszeit vorhält. In der Pflicht stünde Facebook, doch für den Dienst ist kein Impressum und damit direkt Verantwortlicher für neu eingestellte Seiten ohne Impressum auffindbar.

Jetzt wurde in die Wohnung des mutmaßlichen Täters eingebrochen. Der Mann selbst scheint auf Anraten der Polizei untergetaucht. Es mehren sich Kommentare, die die öffentliche Hetzjagd auf den mutmaßlichen Täter verurteilen. Dafür werden die Kommentatoren wiederum angefeindet, weil sie damit angeblich die Tierquälerei, die ganz am Anfang stand, verharmlosen. Wie man es macht, macht man es falsch: Nicht so wortkundige Menschen verbreiten Mutmaßungen als Tatsachen.

Neu ist, dass der simple Vorgang eines Likes bei Facebook für krasse Aussagen so viel Aufmerksamkeit erzeugt, dass erwachsene Menschen ohne großes Nachdenken Aufrufe zur Lynchjustiz unterstützen und fördern. Dazu reicht schon ein einzelner Like. Diese merkwürdige Internetmechanik, die ja eigentlich an vielen Stellen im positiven Sinne zur Verbreitung von Nachrichten beiträgt, verliert so ihre Unschuld.

„Bist Du auch dafür,…“

Wenn da einer fragt „Bist du auch dafür, dass dieser Täter hart bestraft wird?“, klickt man eben durchaus auch mit eingeschaltetem Gehirn auf den vorhandenen Link – zumal, wenn ein niedlicher Hundewelpe das Opfer ist. Die Geschichte dahinter aber, die ein Video in den Folgetagen erzeugte, sieht man der einzelnen Veröffentlichung nicht an. Und so sehen wir heute das Ergebnis einer aus dem Takt geratenen Mediengesellschaft unter Zutun zahlreicher ungelernter Privatpublizisten.

Frage der Medienkompetenz

Dem kommen wir am Ende nur mit Schulung von Medienkompetenz, Sachlichkeit in der Berichterstattung und Aufklärung bei. Die Rhein-Zeitung wird natürlich weiter über den Fall berichten. Aber gegen die vorschnell dahingeschriebene drastische Entgegnung, die dann binnen Minuten viele Fürsprecher findet, ist die Gesellschaft im Jahr 2014 des Internets nicht gefeit. Es gilt aufzuklären, was die simpelste Teilhabe an Medien, ein einzelner Like, für Folgen haben kann: Mob, Lynchjustiz, straftatgleiche Veröffentlichungen. Und dabei wollte man doch nur mitteilen: Ich mag diesen Hundewelpen, habe Anteil an seinem Schicksal und bin dagegen, einer Kreatur Leid zuzufügen.

Darauf würden wir uns sicher zu 99,9 Prozent verständigen. Den 0,1 Prozent der Verirrten setzen wir den Rechtsstaat, die Medien und die öffentliche Meinung entgegen. Klar und deutlich, aber bitte sachlich.