Frankfurt

Tatort-Preview: Schöne neue Welt am Wendehammer – Mörderjagd im digitalen Universum

Schöne neue Welt am Wendehammer Foto: dpa

Irgendwann am Ende des ersten Drittels des neuen Frankfurter „Tatorts“ mit dem Titel „Wendehammer“ fragt sich der Zuschauer: Ja, mein Gott, wo ist denn dieser angeblich ermordete Abendroth, der in einem Teppich eingerollt irgendwo liegen soll? Wo ist die Leiche, der Mord in diesem Krimi? Ein Fall ohne Opfer.

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Redakteur Christian Kunst hat sich den neuen „Tatort“ angesehen. Sein Urteil: Ein bizarr-unterhaltsames Stück über den 
Überwachungsstaat der Zukunft. Gruselig.

„Hier liegt nicht mal ein Finger“, sagt Kommissar Paul Brix (Wolfram Koch) zu seiner Kollegin Anna Janneke (Margarita Broich), als beide in die Mülltonne des Verdächtigen, dem IT-Experten Nils Engels schauen. Es ist eine Sackgasse. Ein Wendehammer am Ende einer Einfamilienhaussiedlung. Fast macht sich Langeweile beim Zuschauen breit, als Janneke wieder Akten in die Schränke stellt, während Brix nach einer Glühbirne für seine Schreibtischlampe sucht.

Nichts für schwache Gemüter

Doch der Zweifel, der Verdacht ist groß, dass etwas faul ist an diesem Wendehammer. Vor allem mit diesem Nils Engels, der das Haus seiner verstorbenen Oma zu einem Hochsicherheitsgebäude umgebaut hat – mit Elektrozaun, Kameraüberwachung, einer eigenen, nur ihm gehorchenden Computerassistentin „Cassie“ und sogar elektronisch gesicherten Mülltonnen. Inmitten all dieser Technik verschanzt sich der überängstliche Engels hinter einem Hochleistungscomputer und einem Dutzend Bildschirmen. Er ist der große Bruder am Wendehammer. Als die Kommissare bei ihm klingeln, zeigt sein Computer ihm gleich die Biografien der ungebetenen Gäste an. Und Engels ist gewalttätig, zumindest gegenüber Tieren. Die Schildkröte des Nachbarsohns zerquetscht er gleich zu Beginn des „Tatorts“ mit seinen Füßen – nichts für schwache Gemüter. Auch Katzen und Hunde hat er auf dem Gewissen.

Klar, dass die Krimiautorin, herrlich gespielt von Cornelia Froboess – ja, wirklich! -, den vermeintlichen Psychopathen im Visier hat. Doch wo ist das Opfer? Und welche Rolle spielen die anderen Bewohner des Wendehammers? Die Opernsängerin Olga, die mit ihrer hohen Stimme wie einst Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“ Gläser zerspringen lässt und die von Engels mit extrem hohen Störgeräuschen zum Wahnsinn getrieben wird. Oder der Vater des Nachbarsohns? Und das Kind selbst, das mit Kommissarin Brix Fußball kickt und um seine tote Schildkröte trauert? Dann ist da Engels' ebenfalls hochbegabte Schwester, die seit Jahren spurlos verschwunden ist. Plötzlich gibt es auch eine Leiche – und eine überraschende Wende am Wendehammer.

Charaktere sind fein gezeichnet

Der neue Fall der Frankfurter Kommissare ist vielschichtig und dynamisch. Er beginnt zähflüssig, skurril, fast putzig und behäbig wie manche „Tatort“-Filme der 70er. Die Psychogramme und Charaktere sind fein und sorgsam gezeichnet, die Zitate anspielungsreich, Filmanalogien breit gesät. Wenn man Henning Riefenstahl, Chef von Brix und Hanneke, dabei beobachtet, wie er die Glühbirnen in seinem Büroschrank hortet, wirkt das schon fast übertrieben verschroben.

Doch je mehr Schichten der „Tatort“ bekommt, je mehr Wendepunkte er durchläuft, umso mehr Wucht bekommt er. Vor allem in dem Moment, als die kleine analoge Welt am Wendehammer mit dem schier unkontrollierbaren, übermächtigen digitalen Universum kollidiert. Ja, auch dieser Film bemüht wieder die Parabel von der schönen neuen Welt. Huxley und Orwell lassen grüßen. Doch gespenstisch ist, wie real diese Fiktion geworden ist. Man kann es auch mit Humor nehmen. „Die wissen alles über uns“, sagt Brix. Hanneke knapp: „Es zwingt Sie ja keiner mitzumachen.“ Wirklich?