ProSieben zeigt Doku „Leaving Neverland“: Michael Jackson und die Kinder

Von Wolfgang M. Schmitt
Nur ein privater Freizeitpark oder der Ort scheußlicher Verbrechen? Michael Jackson lud in sein Anwesen „Neverland“ viele Kinder ein, einige blieben auch über Nacht und schliefen mit ihm zusammen in einem Bett. Die Doku „Leaving Neverland“ fragt, was wirklich geschah.  Foto: dpa
Nur ein privater Freizeitpark oder der Ort scheußlicher Verbrechen? Michael Jackson lud in sein Anwesen „Neverland“ viele Kinder ein, einige blieben auch über Nacht und schliefen mit ihm zusammen in einem Bett. Die Doku „Leaving Neverland“ fragt, was wirklich geschah. Foto: dpa

Michael Jackson gelingt es auch posthum noch, das Publikum in den Bann zu ziehen. Wohl keinem anderen Star würde ProSieben mehr als fünf Stunden Sendezeit an einem Abend einräumen. Doch das, was der Privatsender am Samstag ab 19.05 Uhr ausstahlt, wird alles andere als eine Huldigung sein. Vielmehr wird mit der vierstündigen Dokumentation „Leaving Neverland“ am Thron des „King of Pop“ gesägt.

Lesezeit: 3 Minuten
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Im Fokus der von dem amerikanischen Bezahlsender HBO produzierten Doku stehen zwei Männer, James Safechuck und Wade Robson, die behaupten, sie seien als Kinder von Michael Jackson sexuell missbraucht worden – immer wieder, über Jahre. Die Vorwürfe sind nicht neu, mehrmals musste sich Jackson vor Gericht verantworten, doch er wurde freigesprochen beziehungsweise konnte eine außergerichtliche Einigung erzielen. Brisanterweise haben sowohl Safechuck als auch Robson einst vor Gericht für ihr Idol ausgesagt, um ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Jetzt aber, sagen sie, wollen sie nicht länger schweigen, die Öffentlichkeit soll endlich die Wahrheit kennen.

Dauerhafte Abhängigkeit

Jackson inszenierte sich zeit seines Lebens als jemand, der Kinder liebt, doch, sagen Safechuck und Robson frontal in die Kamera, Jackson setzte kleine Jungs unter Druck, verführte und zwang sie zu sexuellen Handlungen und nutzte seine Popularität schamlos aus, um die Kinder in eine dauerhafte Abhängigkeit zu bringen und ihnen zugleich zu suggerieren, dass das alles gut und richtig so sei. Dass sie missbraucht wurden, wurde deshalb den Männern, die Jackson Ende der 1980er-Jahre kennenlernten, erst im Erwachsenenalter klar.

„Leaving Neverland“ nimmt ausschließlich die mutmaßlichen Opfer und ihre Familien in den Blick. Vier Stunden erzählen Safechuck und Robson von ihrer kindlichen Begeisterung für Jackson: Beide ahmten sie seinen legendären Tanzstil nach, nahmen an einem von Jacksons Team ausgerichteten Wettbewerb teil, wurden so von Michael entdeckt, der die Jungs und ihre Familien auf die Neverland Ranch einlud, Urlaube spendierte und sich nach und nach das Vertauen aller erschlich, bis selbst die Mütter nichts mehr dagegen hatten, dass die Kinder mit Jackson in einem Zimmer schlafen dürfen.

Die Gegenseite kommt nicht zu Wort, Drohnenaufnahmen von Neverland und den Wohnhäusern der Familie sowie einige Archivbilder unterbrechen die eindrücklichen, mit teils doch zu sehr auf eine dramatisierende Wirkung zielende Streicherklänge untermalten langen Monologe. Schrittweise nähern sich Safechuck und Robson den traumatischen Ereignissen an, ausführlich und detailliert schildern sie, was Jackson ihnen angetan haben soll.

So stark die Sogwirkung der Dokumentation auch ist, wir müssen uns stets klarmachen: Wir wissen die Wahrheit nicht, und es ist sehr wahrscheinlich, dass wir sie nie erfahren werden. ProSieben wird deshalb vor dem Hauptfilm eine einstündige Sondersendung über die derzeitige Debatte zeigen, in der unter anderem Weggefährten und Jackson-Verteidiger zu Wort kommen. Wenn „Leaving Neverland“ ein Spielfilm wäre, würde man loben, dass er absolut plausibel und sensibel erzählt ist. Kein einziges Mal hat man Grund, an den Aussagen von Safechuck und Robson zu zweifeln. Viel Zeit nimmt sich Regisseur Dan Reed, um die Komplexität der Fälle darzustellen – das ist spannend wie erschütternd. Dennoch: Es ist lediglich eine Sicht der Dinge, eine Doku ersetzt kein Gerichtsurteil.

Es besteht die Möglichkeit, dass es anders war, was vor allem zeigt, dass dokumentarische Formen an Grenzen geraten: Zwar können sie das sichtbar machen, was im Verborgenen lag, aber sie bleiben stets subjektiv. Man muss „Leaving Neverland“ zugutehalten, dass nie Objektivität suggeriert wird – dieser Film steht auf der Seite der mutmaßlichen Opfer. Für Michael-Jackson-Fans ist ebendies schwer zu ertragen: Sie haben im Internet große Kampagnen gestartet, um die Unschuld des Popstars, der doch bloß wie der nicht erwachsen werden wollende Peter Pan gewesen sei, zu „beweisen“.

Das Verhältnis der Fans zu Michael Jackson ist ambivalent: Zum einen schauen sie zu ihm auf – eine typische Fanperspektive–, zum anderen aber glauben sie, ihn wie ein kleines Kind verteidigen zu müssen. Die Fans erinnern dabei an Eltern, die nichts auf ihren Sprössling kommen lassen.

Über die konkreten Fälle hinaus ist die Dokumentation eine Annäherung an ein popkulturelles Phänomen, das vielleicht bedeutendste der 80er- und 90er-Jahre. Michael Jackson gelang es, mit seiner immer heller werdenden Haut, seiner Falsettstimme, seinem androgynen Äußeren – angeblich war sein ästhetisches Vorbild seine Freundin Elizabeth Taylor – alle geschlechtlichen und ethnischen Grenzen zu überwinden. Mit dem „Moonwalk“ löste er sich buchstäblich von der Erde. Jackson schuf sich selbst, eine Kunstfigur, die dennoch echt, beinahe möchte man sagen, authentisch zu sein schien. Und wer alle menschlichen Zuschreibungen und Eigenschaften hinter sich gelassen hat, an dem wirken selbst hoch sexualisierte Tanzgesten merkwürdig rein und unschuldig.

Ein neuer Blick auf Stars

„Leaving Neverland“ will mit dieser Illusion brechen, indem behauptet wird, dass Jackson ein Mensch war, eben weil, wie Safechuck und Robson behaupten, er fürchterliche Dinge tat. Man blickt nach der Doku nicht nur auf Jackson anders, sondern auf Stars generell, auf deren Macht und Einfluss. Möglicherweise ist „Leaving Neverland“ der Beginn einer Götterdämmerung.

Etwas aber beweist die Doku en passant: Immer wieder behaupten Fernsehmacher, zumal deutsche, dass im TV alles schnell gehen muss – keine Antwort länger als 30 Sekunden, mindestens sieben Schnitte pro Minute, maximal 60 Minuten für eine Reportage. „Leaving Neverland“ macht das genaue Gegenteil dieser Irrlehre – und ist deshalb so packend und gut. Jeder sollte sich „Leaving Neverland“ ansehen, vor allem aber Fernsehintendanten und -redakteuren sei die Doku ans Herz gelegt.

Am Samstag um 19.05 Uhr zeigt ProSieben vorab ein Spezial. Um 20.15 beginnt die Dokumentation „Leaving Neverland“.

Von unserem Reporter Wolfgang M. Schmitt