Philippinen: Tanz durch die Trümmer

Esther Wittstock, Mitglied des gemeinnützigen Westerwälder Vereins Charity Event, macht sich an Ort und Stelle ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung durch den Taifun. Foto: Milena Merten
Esther Wittstock, Mitglied des gemeinnützigen Westerwälder Vereins Charity Event, macht sich an Ort und Stelle ein Bild vom Ausmaß der Zerstörung durch den Taifun. Foto: Milena Merten

Bis heute sind weite Teile der östlichen Philippinen vom Taifun „Haiyan“ verwüstet, der Schock sitzt noch tief. Während das internationale Interesse nachlässt, kämpfen sich die Menschen langsam wieder zurück ins Leben. Unsere Reporterin Milena Merten berichtet von einem Besuch auf den Philippinen.

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Von unserer Mitarbeiterin Milena Merten

Das Mädchen lässt seinen Drachen tanzen. Es lenkt ihn mithilfe einer Blechdose, die es an die Leine des Drachens geknotet hat. Die Flügel bestehen aus Stoffresten, die überall in der zerstörten Stadt herumliegen. Sie sind Überbleibsel aus dem Leben vor dem 8. November 2013. Der Drachen kreist über Schutt und Trümmerteile – Reste von Holzhütten, zerbrochene Möbelstücke, abgebrochene Äste, Müll. Vorbei an einem Jungen, der aus Baumstämmen eine Hütte zimmert. Das Mädchen lässt den Drachen zu den riesigen Schiffen fliegen, die von der Wucht des Taifuns angespült und in allen Nachrichtensendungen auf der ganzen Welt gezeigt wurden, um das Ausmaß der Zerstörung in der Stadt Tacloban greifbar zu machen. Es hüpft weiter mit seinen Flip-Flops durch die Trümmer, hin zu anderen Kindern, die im Müll nach möglichen Spielsachen suchen. Neben ihnen ragt eine abgebrochene Palme in den Himmel, daran hängt ein Pappschild mit der Aufschrift „Welcome to Yolanda Village“.

Viele Hütten werden wieder am Wasser gebaut

„Yolanda“ ist der philippinische Name für den Wirbelsturm „Haiyan“, der mit bis zu 295 km/h über große Teile der Inseln Leyte und Samar im Osten des Inselstaats hinwegfegte. Rund 10 000 Menschen starben, mehr als vier Millionen verloren ihr Zuhause, ihr komplettes Hab und Gut. Hier, direkt an der Küste der am schlimmsten betroffenen Stadt Tacloban, hat die Regierung eine Bauverbotszone ausgerufen: Zu groß sei die Gefahr, dass ein weiterer Taifun die Region treffe und erneut eine Sturmflut auslöse. Dennoch sind überall Menschen zu sehen, die ihre Hütten wieder in direkter Nähe zum Wasser aufbauen. Lou Sabino Il Velasco seufzt. „Wo sollen die Menschen denn hin? Die Regierung sagt, sie dürfen hier nicht bauen, aber sie haben kein Ausweichgebiet ausgewiesen. Also bleiben die meisten erst mal, wo sie sind. Sie wünschen sich, dass alles wieder so wird, wie es war.“

Lou arbeitet gemeinsam mit seiner deutschen Frau Tanja als christlicher Missionar in einem Straßenkinder-Projekt im mehr als 600 Kilometer entfernten Davao City im Süden der Philippinen. Als die Ausmaße der Zerstörung durch den Taifun sichtbar wurden, entschied er sich, an Ort und Stelle zu helfen. „In der internationalen Berichterstattung wirkte es fast, als ob ausschließlich die Stadt Tacloban betroffen wäre“, erklärt der 36-Jährige. Ein Grund dafür war, dass Journalisten mit Militärflugzeugen in die Stadt geflogen wurden und somit die Möglichkeit hatten, vom Unglücksort zu berichten. „Sehr viele Hilfsorganisationen aus aller Welt sind daraufhin nach Tacloban gekommen, da es dort auch die meisten Todesopfer gab. Jedoch ist die Lage in den ländlichen Regionen nicht weniger verheerend.“ Daher übernahm Lou gemeinsam mit seiner Missionarsorganisation „Youth with a Mission“ die Patenschaft der ländlichen Siedlung Rawis im Osten der Insel Leyte.

Der Anfang ist gemacht: Die fast vollständig zerstörte Grundschule der Siedlung Victory bekommt ein neues Dach. Foto: Charity Event
Der Anfang ist gemacht: Die fast vollständig zerstörte Grundschule der Siedlung Victory bekommt ein neues Dach.
Foto: Charity Event

Die Fahrt von Tacloban nach Rawis dauert etwa 30 Minuten, vorbei an Ruinen, Müllbergen und Hunderten abgebrochenen Palmen und Kokosnussbäumen, die in den Zeiten vor dem Taifun die wirtschaftliche Lebensgrundlage der Bevölkerung waren. Es wird Jahre dauern, bis sich die Bäume erholt haben. Weite Teile der Gemeinde liegen in Trümmern. Noch immer gibt es kein fließendes Wasser; erst seit Anfang April haben die Menschen wieder Strom. Rawis‘ Bürgermeister präsentiert Lou und den anderen freiwilligen Helfern stolz die neue Wasserpumpe auf dem Schulhof der örtlichen Grundschule. Mit der Unterstützung verschiedener Hilfsorganisationen, meist aus dem Ausland, konnte die Schule wieder aufgebaut und renoviert werden. Generell läuft der Wiederaufbau jedoch schleppend, berichtet Denise Cabodoc Kempis, ein junger Frisör aus Rawis. „Anfangs kam ein Großteil der Hilfsgüter einfach nicht bei uns an. Nach dem Taifun hatten wir zwei Wochen lang nichts zu essen. Die Regierung hat viele Gelder selbst eingesackt oder die Lieferung von Gütern durch langwierige Bürokratie verzögert. Für uns ging es ums nackte Überleben. Da war der Wiederaufbau erst mal zweitrangig.“

Kinder werden in Zelten unterrichtet

Der Überlebenskampf wird besonders in der benachbarten Siedlung Victory deutlich. Von der dortigen Grundschule sind nur noch Bruchstücke übrig. Auf das einzige verbliebene Dach pinselten die Anwohner in großen Lettern „SOS – Wir brauchen Essen!“, in der Hoffnung auf Hubschrauber, die ihre Botschaft lesen würden. Die Schulgebäude sind einsturzgefährdet, sodass die Kinder in provisorischen Zelten unterrichtet werden.

Die 23-jährige Studentin Esther Wittstock ist aus der Westerwaldgemeinde Kleinmaischeid angereist. Seit sie 2011 ein Praktikum in einem SOS-Kinderdorf in Davao City absolvierte, reist sie regelmäßig auf die Philippinen. Als sie im November von dem mächtigen Taifun im Osten des Inselstaats erfuhr, rief sie Verwandte, Freunde und Bekannte persönlich oder über Facebook zu Spenden auf. Auf diese Weise kamen 14 große Pakete mit Bettwäsche, Kleidung, Zahnbürsten, Erste-Hilfe-Sets und Babyartikeln zusammen. „Mir ist es wichtig, dass die Hilfsgüter tatsächlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden“, erzählt die angehende Lehrerin. Daher sorgte sie persönlich dafür, dass die Spenden an die Familien in der zerstörten Region verteilt werden.

Neben ihrem privaten Spendenprojekt engagiert sich Esther Wittstock bei dem gemeinnützigen Verein Charity Event mit Sitz in Hachenburg im Westerwald. Der Verein „von jungen Menschen und für junge Menschen“ hat zum Ziel, Projekte zu fördern, und die Bildung und Erziehung für benachteiligte Menschen zu verbessern. Die Spenden werden durch eigens organisierte Sportwettbewerbe und Kulturevents in der Region akquiriert und zu 100 Prozent in die Hilfsprojekte überführt. Für die Philippinen konnten die 70 Mitglieder des Vereins mithilfe von Spendenaufrufen insgesamt 2500 Euro einnehmen. Esther Wittstock suchte dann in der betroffenen Region ein sinnvolles Projekt aus, das durch die Gelder gefördert werden soll. „Ich konnte mir hier ein Bild von der Situation machen. Während manche Schulen schon wieder vollständig aufgebaut sind, liegen andere noch komplett in Trümmern. Die Victory-Grundschule hat noch dringend Unterstützung nötig“, begründet sie ihre Auswahl. Mit Unterstützung von Lou und seinen Helfern organisiert sie nun den Wiederaufbau der Schule. „Zurzeit werden die Dächer der erhaltenen Schulgebäude erneuert, sodass dort wieder Unterricht stattfinden kann.“ Schritt für Schritt soll so die Schule wieder vollständig erneuert werden.

Denise hat sich anders als viele junge Philippiner entschieden, in seiner Heimat zu bleiben, statt nach Manila zu fliehen. Er ist vom Einsatz der zahlreichen Hilfsorganisationen beeindruckt. „Nach dem Sturm haben wir gedacht: Das war’s, das ist das Ende. Wir hatten jede Hoffnung verloren. Doch jetzt geht es langsam wieder aufwärts. Es ist noch ein weiter Weg, aber irgendwann wird alles wieder werden, wie es einmal war – vielleicht sogar besser.“ Bis es so weit ist, zieht der Drachen weiterhin seine Kreise über Trümmer, Schutt und die Köpfe der Menschen, die hoffen, nicht in Vergessenheit zu geraten.