Hannover

ESC: Eurodisco-Einheitsware für Deutschland

Cascada wird beim Eurovision Song Contest in Malmö für Deutschland singen. Die Band aus Bonn rund um Frontfrau Natalie Horler (31) löste das Ticket für die Teilnahme an dem Musikwettbewerb am 18. Mai in Schweden.
Cascada wird beim Eurovision Song Contest in Malmö für Deutschland singen. Die Band aus Bonn rund um Frontfrau Natalie Horler (31) löste das Ticket für die Teilnahme an dem Musikwettbewerb am 18. Mai in Schweden. Foto: dpa

Mary Roos war es sichtbar unangenehm: Als Sprecherin der Jury zur deutschen Vorausscheidung zum Eurovision Song Contest stellte sie das Ergebnis der Zuschauer-Voten komplett auf den Kopf.

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In einem sensationellen Durchmarsch hatten die Jungs der LaBrassBanda aus Bayern mit ihrer fetzigen Blasmusik mit Ska-Einschlag ausschließlich Zwölf-Punkt-Wertungen der beteiligten Radiosender und ihrer Zuhörer eingefahren. Und auch die Anrufer des Tele-Votings (laut ARD mehr als 800 000) setzten LaBrassBanda auf den zweiten Platz. Nicht so die Jury aus Mary Roos, Roman Lob, Tim Bendzko, Anna Loos und Peter Urban: Sie vergaben nur einen mageren Punkt an LaBrassBanda – für das Disco-Trio Cascada aus Bonn sprangen bei den Musikprofis acht Punkte heraus – so wurde ihre Eurodisco-Einheitsware „Glorious“ Sieger des Vorentscheides. Wer das Lied noch nicht zu kennen glaubt, kennt es wahrscheinlich doch beinahe: Es ist ein dreister Abklatsch des Vorjahres-ESC-Siegers „Euphoria“.

Der Wechsel von der Kooperation der ARD mit ProSieben und Stefan Raab hat dem öffentlichen Interesse dabei weder geschadet noch groß aufgeholfen: In den Vorjahren hatte Raab abwechselnd im Privat-TV und in der ARD mit mehreren Shows Sänger gecastet – dabei wurden immerhin die Siegerin 2011, Lena, und im Vorjahr Roman Lob aus Neustadt/Wied (Achter in Baku) ermittelt.

Der ESC war so über Wochen Thema – mit dem Wechsel zurück zur ARD gab es zwar mehr Zuschauer als im Vorjahr zur Entscheidungsshow, doch angesichts der einen Show im Gegensatz zu den Vorjahresstrecken ist die Quote nicht berauschend: 3,24 Millionen (Marktanteil runde 10 Prozent) verfolgten das Hannoveraner Spektakel aus einer nicht ausverkauften Halle. Wer im ersten Jahr „nach Raab“ mehr musikalische Qualität erhofft hatte, wurde enttäuscht – lediglich bei der Vielfalt gab es ein deutliches Plus. Dafür aber auch jede Menge Aufgüsse: Zwei Beiträge lieferten ein 80er-Revival, die nette Schwedin Betty Dittrich ließ die 60er-Jahre mit Wencke-Myhre-Charme wiederauferstehen, bei den Söhnen Mannheims klang Musik von Seeed mit. Die Duisburger Band Mobilée hatte wenig Glück mit dem Sound und ihrem gut gespielten, aber unauffälligen Song „Little Sister“, die Sängerin Saint Lu hat ebenso wie auch Mia Diekow eine ganz spezielle Stimme und eine nicht ganz glückliche Titelauswahl. Kompletter Ausreißer blieben „Die Priester“ mit Sopranistin Mojca Erdmann und „Meerstern, sei gegrüßt“ – drei echte Priester hinter heftig tremolierender Opernsängerin zum unisono singenden Männerchörchen degradiert.

Am Tag nach der Entscheidung kamen im Internet mehrere Verschwörungstheorien auf: Die Bayern von LaBrassBanda hätten die meisten organisierten Fans, um bei den Hörfunksendern online abzustimmen, lautete der eine Vorwurf. Der andere: Fast die komplette Jury ist bei der Plattenfirma Universal unter Vertrag, die auch Cascada vertritt. Letzteres spricht zumindest für eine ungeschickte Auswahl: Im Konzentrationsprozess des Musikmarktes sind wenige Große übrig geblieben – und von ihnen ist Universal ebenso Platzhirsch wie Sony Music, bei der die Bayern unter Vertrag sind.

Was auch bleibt: Respekt für Anke Engelke, die eine große Show mit Witz und Souveränität eben mal so wegmoderiert und gerade bei Pannen zur Hochform aufläuft. Und ganz dezent durchblicken lässt, dass sie von der stark angeheiterten Cascada-Sängerin und ihrem Retortensong nicht eben begeistert ist.

Von unserem Kulturchef Claus Ambrosius