„Bullying“: Wenn die persönlichen Bilder von Facebook plötzlich bei Erotikchats auftauchen

Wenn Facebook zum Albtraum wird: Wer Fotos von sich in den sozialen Netzwerken einstellt, der rechnet meist nicht damit, dass sie damit auch Kriminellen zugänglich sind. Und dass problemlos mit diesen Bildern Missbrauch getrieben werden kann. Redakteur Michael Defrancesco hat einen Fall aufgezeichnet.

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Privates ist längst nicht mehr privat. Dabei brauchen viele gar nicht wütend auf die NSA zu zeigen: Auf ihrem Facebook-Profil teilen sie bereitwillig Privates mit der Welt. Das kann die Basis zu üblem Mobbing sein. Wir haben mit einer Betroffenen gesprochen.

Die Cousine hat ein neues Babybild hochgeladen. Gefällt mir. Der Kollege postet ein lustiges Katzenvideo. Wird geteilt. Und dann noch schnell ein Selfie vom Urlaub posten. Milliarden Menschen leben ein öffentliches Leben auf Facebook, manche verbringen mehr Zeit in der virtuellen Wirklichkeit als in der Realität. Ein scheinbar harmloses Vergnügen, sein Leben mit Freunden und Familie zu teilen. Doch für Christiane* wurde die Plattform zum Albtraum.

Wohnungsanzeige von Facebook auf eine Swingerseite kopiert

Mit einer E-Mail fängt alles an. Ein ihr unbekannter Tom* fragt Christiane, ob sie immer noch eine neue Wohnung sucht. Die junge Frau, die tatsächlich auf Wohnungssuche ist, will wissen, woher Tom diese Info hat. Ein gemeinsamer Freund, heißt es vage. Tom will sich mit Christiane treffen – was sie noch misstrauischer werden lässt. Sie hakt nach – und erfährt Schreckliches: Ihre Wohnungsanzeige, die sie auf Facebook eingestellt hatte und die nur für ihren Freundeskreis sichtbar war, war kopiert und auf einer Swingerseite eingestellt worden. Ein gewisser Oskar* hatte dies getan – und er hatte nicht nur Christianes private Fotos geklaut. Er hatte auf der Swingerseite ebenfalls den Tipp hinterlassen, sich doch mit einem angeblichen Wohnungsvorschlag bei Christiane zu melden. Dann sollte es zum Sex kommen, der Oskar danach in allen Einzelheiten geschildert werden sollte.

Christiane ist entsetzt. Sie kontaktiert die Polizei. Oskar hat sich gut getarnt, er operiert mit einer temporären Yahoo-Adresse, die erst einmal nicht zurückzuverfolgen ist. So macht denn auch die Polizei Christiane wenig Hoffnungen; ohne die IP-Adresse des Täters sei da nicht viel zu machen, heißt es. Eine IP-Adresse wird allen Computern zugewiesen, die an das Internet angebunden sind, und macht die Geräte so adressier- und erreichbar – wie ein Autokennzeichen.

Christiane beginnt selbst zu recherchieren und hält sich an Tom, ihre einzige Verbindung zu Oskar. Doch Tom weiß selbst nicht viel. Außer „potenzieller Exfreund mit Rachegelüsten“ kommt nicht viel dabei heraus. „Stundenlang habe ich überlegt, wer Oskar sein könnte, aber mir fiel niemand ein, auf den das auch nur annähernd zutrifft”, erinnert sich Christiane im Gespräch mit uns. Danach hat die junge Frau Ruhe. Vorerst.

E-Mails von einem Unbekannten

Ein paar Monate später trifft erneut eine E-Mail von einem Unbekannten ein, erzählt sie. Wieder dieselbe Masche, wieder Oskar, der sie auf einer erotischen Seite anbietet. Wieder verwickelt Christiane den E-Mailer in Gespräche und versucht, die Identität des Täters aus winzigen Puzzleteilchen zusammenzusetzen. Erfolglos.

Fest steht für Christiane nur dies: Besagter Oskar muss aus ihrem Facebook-Freundeskreis stammen, sonst käme er nicht an ihre Fotos und ihre Kontaktdaten. Oder wurde sie vielleicht gehackt, war also jemand illegal in ihren geschützten Account eingedrungen? „Alle paar Wochen habe ich meine Passwörter gewechselt“, erinnert sich Christiane, „und ich durchsiebte die Facebook-Freundesliste.“

„Man traut doch seinen Freunden“

Sie wird misstrauisch, überlegt nun genau, was sie auf Facebook stellt und wem sie vertraut. Sie rätselt nach dem Motiv des Täters. „Klar weiß ich, dass im Internet nichts sicher ist, aber man geht doch nicht davon aus, dass Bilder, die man mit seinen Freunden auf Facebook teilt, auf erotischen Seiten landen. Man traut doch seinen Freunden”, erklärt Christiane.

Markus Appel ist Professor am Institut für Kommunikationspsychologie und Medienpädagogik der Universität Koblenz-Landau. „Hier äußert sich ein aktuelles Phänomen unserer vom Internet geprägten Zeit“, analysiert der Experte. „Dank der sozialen Netzwerke sind viel mehr Menschen ansprechbar und viel mehr Bilder zugänglich.“ Für den normalen Alltag sei nichts dagegen einzuwenden, wenn Privates geteilt wird, sagt Appel. „Aber man vergisst allzu leicht, dass auch Kriminelle all das nutzen können, was man im Internet einstellt.“ Das Ergebnis: Man macht sich angreifbar.

„Heutzutage teilen wir mehr mit als früher“, sagt Appel. Früher wusste nur der engste Freundeskreis, welche Musik man gern hört, welche Vorlieben und Abneigungen, ja auch welche Schwächen man hat. „Heute kann ich relativ unkompliziert anhand der Postings auf Facebook ein Profil des Menschen erstellen.“

Durch Infos auf Facebook werden Schwächen sichtbar

Das bedeutet: Wer einen anderen Menschen schädigen will, kann diese Erkenntnisse benutzen. Der Fachmann spricht von Bullying, wenn ein Mensch von einem in der Hierarchie Gleichgestellten bedrängt wird. „Denken wir nur ans Bullying auf dem Schulhof“, sagt Appel. „Durch Infos aus Facebook weiß ein Jugendlicher möglicherweise ganz genau, welche Schwächen der andere hat – und muss nicht mehr mutmaßen. Damit ist das Bullying noch verletzender, als wenn der Aggressor raten muss, was den anderen trifft.“

Christianes Leidensweg ist noch nicht vorbei. Nach Monaten der Ruhe kommt keine neue E-Mail – nein, diesmal klingelt ihr Handy. Ein Unbekannter namens Jens* meldet sich und bittet um ein eindeutig zweideutiges Treffen. Es stellt sich heraus, dass erneut 20 Fotos von Christiane auf der Seite eines Escortservices hochgeladen worden waren. Erneut von Oskar. Doch diesmal hat Oskar nicht nur ihre E-Mail-Adresse angegeben, nein: Er hat Christianes wirkliche Telefonnummer plus ihre echte Adresse veröffentlicht – beides stand auf Christianes geschäftlicher Facebook-Seite, die sie parallel zur privaten Seite betrieb.

„Das Schlimme am Cyberbullying ist, dass es niemals aufhört“, sagt Markus Appel. Hänseleien auf dem Schulhof oder am Arbeitsplatz finden eben nur während der Schul- oder der Bürozeit statt. Das ist schlimm genug, aber immerhin bleibt man am Abend zu Hause verschont.

Am Ende ist der Täter ein ehemaliger Kollege

Doch diesmal hat Christiane Glück. Denn Jens ist IT-Fachmann und versteht sofort, welches Spiel hier getrieben wird. Geschickt verwickelt er Oskar in immer mehr E-Mails und bekommt so dessen IP-Adresse heraus. „Ab da ging alles wahnsinnig schnell”, erinnert sich Christiane. Der Albtraum scheint dem Ende nahe. Nie wird sie den Augenblick vergessen, als sie erfährt, auf wen die IP-Adresse zugelassen ist, sagt sie: ein ehemaliger Kollege. Noch vor ein paar Tagen hatte sie an ihn gedacht und ihn im Kopf als möglichen Täter aussortiert. „Nein, zu harmlos”, hatte sie befunden.

„Irgendwann ist das Mobbing vorbei, aber diese Situation kann durchaus ein Trauma auslösen“, sagt Prof. Appel. Besonders dann, wenn wie in diesem Fall der Täter aus dem Bekanntenkreis stammt. Die Opfer stellen ihre Menschenkenntnis infrage, fühlen sich nirgendwo sicher. „Bei fortdauernder Belastung sollten sich Bullying-Opfer an einen Psychologen wenden“, sagt Appel. Die Frage ist, wie die betroffene Person mit diesem Erlebnis umgeht, wie sie es verarbeiten kann und welche Lehren sie daraus zieht. „Das Internet ist Teil unseres Lebens“, sagt der Experte. „Sich aus den sozialen Netzwerken zurückzuziehen, muss nicht zwingend von Nutzen sein. Dies könnte eine Person weiter isolieren.“

Es sei deshalb auch wichtig für die Wissenschaft, sich noch intensiver mit dem Problem des Cybermobbings zu beschäftigen. „Wichtig ist ein differenzierter Blick. Weder eine Verteufelung des Internets ganz allgemein, noch eine Schuldzuweisung an die Opfer ist angemessen. Nach dem Motto ‚Sie hätte ja nichts online stellen müssen’ oder ‚Wer Facebook nutzt, der darf nichts anderes erwarten’. Vor so einer Denke warne ich.“

Volles Geständnis abgelegt

Manchmal komme noch die alte Denkweise von früher durch. Früher, als Erwachsene bei Konflikten auf dem Schulhof mit den Schultern zuckten und sagten: „Ach, die raufen ja bloß ein bisschen.“ „Bei Bullying auf dem Schulhof oder im Internet müssen wir gleichermaßen hinschauen und überlegen, wie wir helfen können“, sagt Prof. Appel.

Oskar hat inzwischen ein volles Geständnis abgelegt und wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, erzählt Christiane. Sie selbst ist immer noch bei Facebook aktiv – um mit ihren Freunden weltweit in Kontakt bleiben zu können. Doch statt Strandfotos postet sie nun lieber Bilder von Katzen oder Essen. Dabei fühlt sie sich sicherer.

Gefahr aus dem Netz

Mit den Begriffen Cybermobbing, Cyberbullying sowie Cyberstalking werden verschiedene Formen der Diffamierung, Belästigung, Bedrängung und Nötigung anderer Menschen bezeichnet, die über das Internet geführt werden. Meistens finden die Taten in Chatrooms statt oder in Messengerdiensten wie Whatsapp. Dazu gehört auch der Diebstahl von virtuellen Identitäten, um in fremdem Namen Beleidigungen auszustoßen oder Geschäfte zu tätigen.

Eine repräsentative Studie der Universität Münster kam 2011 zu dem Ergebnis, dass 32 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Opfer von Cybermobbing betroffen sind. Verschiedene Beratungsstellen bieten Hilfe an. Weitere Infos im Internet:

Von Michael Defrancesco