Moskau – Es ist der Moment, in dem Wladimir Putin die Chance verpasst, sich als weiser Staatsmann zu zeigen. Er will ein Gesetz zu Waisenkindern unterzeichnen, vor dem nicht nur das UN-Kinderhilfswerk Unicef, sondern auch Kabinettsmitglieder warnen. Die Entscheidung passt ins Bild: Putin scheint das Gespür verloren zu haben.
Gerade hat die Duma ein stark umstrittenes Gesetz verabschiedet: US-Bürger dürfen künftig keine russischen Waisenkinder mehr adoptieren. So will man sich für das amerikanische Magnitski-Gesetz rächen, das russische Beamte bei Menschenrechtsverletzungen mit Einreisesperre belegt. Wellen der Empörung schwappen durch Russland, die Waisenkinder-Lobby läuft Sturm. Jetzt sitzt Putin bei seiner Jahrespressekonferenz vor 1200 Journalisten und wird mit unbequemen Fragen zum Adoptionsverbot bombardiert.
Diese zum Beispiel: Ist es nicht unmenschlich, dass die Abgeordneten ihre Vergeltung ausgerechnet auf dem Rücken der Schwächsten austragen? Der Kremlchef laviert ein wenig, dann findet er zum alten anti-amerikanischen Beißreflex zurück. Die Amerikaner hätten in der Vergangenheit russische Konsularbeamte nicht zu den Adoptivkindern gelassen, bellt er, und überhaupt sollten sie sich nicht um die Menschenrechte in Russland sorgen, wenn es doch Guantanamo Bay gebe. Als die achte bohrende Frage zu den Waisenkindern kommt, rudert Putin zurück. Er wisse nicht genau, was in dem Gesetz über das Adoptionsverbot stehe, behauptet der Präsident plötzlich. Doch nun ist es zu spät. Putin hat sich festgelegt. Er hat ein skandalöses Gesetz, auf das viele Russen mit Abscheu reagieren, öffentlich gerechtfertigt.
Aus PR-Gesichtspunkten war es ein unglücklicher Schachzug. Vermutlich hat sich Putin in der Frage zunächst Platz zum Manövrieren freihalten wollen, glaubt der Politologe Boris Makarenko. „Doch dann hat er ganz eindeutig erklärt: Putin ist dagegen, dass Amerikaner kranke russische Kinder adoptieren. Und damit hat er sein Manöver begraben“.
Sand im Getriebe der Macht
Es läuft nicht gut für Wladimir Putin in seiner dritten Amtszeit. Dabei steht Russlands starker Mann eigentlich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Seit 13 Jahren bestimmt er die Geschicke seines Landes. Im vergangenen März wurde er wieder zum Kremlchef gewählt. Mindestens bis 2018, möglicherweise sogar bis 2024 wird Putin Russland regieren.
Doch das Jahr seiner Wiederwahl war auch das Jahr der größten Proteste seit der Jelzin-Ära. Bis zu 100 000 Menschen gingen in Moskau auf die Straße, um gegen gefälschte Wahlen zu protestieren. Putin ignorierte die wachsende Proteststimmung. Und kaum war er wieder in den Kreml eingezogen, verabschiedete die Duma eine Serie repressiver Gesetze. Das Demonstrationsgesetz wurde verschärft, Nicht-Regierungsorganisationen mit Finanzierung aus dem Ausland müssen sich jetzt als „ausländische Agenten“ registrieren. Gegen alle Anführer der Protestbewegung ermittelt die Staatsanwaltschaft.
Putin will Stärke zeigen. Doch stattdessen machen Gerüchte über seine Schwäche die Runde. Der 60-Jährige leidet offenbar an starken Rückenschmerzen. Möglicherweise sind sie die Folge seines letzten Macho-Auftritts: Im September lenkte Putin ein Ultraleichtflugzeug über die Weiten Sibiriens, um Kranichen den Weg zu zeigen. Bei der Landung soll er sich an der Wirbelsäule verletzt haben. Der Kreml dementiert dies, aber Putin musste in den vergangenen Monaten mehrere Dienstreisen und öffentliche Auftritte absagen. „Chronische Schmerzen verändern den Menschen“, warnt das kremlkritische Magazin „Nowoe Wremja“ und druckt eine Doppelseite mit Ärztemeinungen über den Rücken der Nation ab. Doch Putin will sich nicht ändern. Gerade das ist sein Problem.
Während der Chef schwächelt, wird den Russen immer bewusster, dass sich unter Putin eine schamlos korrupte, arrogante und abgehobene Machtelite gebildet hat. Die Dekadenz der Mächtigen kennt kaum noch Grenzen. Da posiert Regierungschef Dmitri Medwedew für einen Fernsehspot in einem sündhaft teuren Geländewagen und fordert allen Ernstes, Trunkenheit am Steuer mit einer Geldstrafe von 12 000 Euro zu ahnden. Die meisten Russen verdienen so viel nicht einmal im ganzen Jahr.
Regiert von Halbirren?
Medwedews Stellvertreter, der für den Rüstungssektor zuständige Dmitri Rogosin, will dagegen in einem fünf Tonnen schweren Panzerwagen des Typs „Tigr“ zur Arbeit fahren und empfiehlt das auch seinen Kollegen. Und während sich manche Russen fragen, ob sie nicht eigentlich von Halbirren regiert werden, entdecken Fahnder bei einer Razzia in der 13-Zimmer-Wohnung der Geliebten des Verteidigungsministers mehr als 1500 Schmuckstücke im Wert von mehreren Millionen Dollar.
Wie diese Elite über das eigene Volk denkt, verriet kürzlich der Nachwuchs-Parlamentarier Ilja Kostunow: „In der Duma ist der allerdümmste Abgeordnete noch klüger als der statistische Durchschnittbürger“, tönte der 32-Jährige, der für die Kremlpartei Geeintes Russland im Parlament sitzt. Kostunow musste sich für seine Äußerung vor der Ethik-Kommission der Duma verantworten. Er wurde freigesprochen.
Von unserer Moskauer Korrespondentin Doris Heimann