Von unserem Redakteur Dietmar Telser
Nach wenigen Minuten ist der Einsatz zu Ende. „Wir haben ihn gefunden“, ruft ein Polizist und versucht, die Nachbarn zu beruhigen: „Sie können jetzt weiterschlafen.“ Es ist der 4. Juli 2010. Der Westerwald hat seinen ersten Al-Kaida-Fall.
Drei Jahre später, am 17. April 2013, wird Mahmud Khalid zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Vor dem Koblenzer Oberlandesgericht wurden die Taten penibel rekonstruiert. Mahmud war kein Terrorist und auch kein Al-Kaida-Stratege. Er sorgte aber dafür, dass die Propaganda der Islamisten möglichst vielen zugänglich gemacht wurde. Jahrelang betrieb der Student Seiten im Internet, auf denen Anschläge verherrlicht wurden. Er übersetzte Reden von Osama bin Laden, er verlinkte ein Video, das zeigt, wie Terroristen einem US-amerikanischen Geschäftsmann den Kopf abschlagen. Immer professioneller ging er im Laufe der Jahre vor. Er zapfte das WLAN-Netz der Nachbarn an und gründete eine Art Medienstelle für Terroristen, das Al Ansar Media Battalion. Es war in dieser Zeit das bedeutendste Medium zur Verbreitung von Propaganda für den Glaubenskrieg im deutschsprachigen Raum.
Ein ganz normaler Student?
Im Westerwald war damals die Verwunderung groß. „Wir dachten, das ist ein ganz normaler Student“, sagte ein Nachbar nach der Festnahme. Still soll er gewesen sein, sagte ein anderer, unauffällig, außerdem sprach er gut Deutsch. Er galt, wenn man die üblichen Kriterien anlegt, als integriert. Wie aber kann jemand so zum Handlanger des Terrors werden?
Pfarrer Christof Schmidt sitzt im Pfarrbüro der evangelischen Gemeinde in Unnau und muss nicht lange nach Worten suchen. Es scheint, als hätte er diese Sätze schon tausendmal im Kopf formuliert. Als Mahmud festgenommen wurde, hat er ein bisschen gehofft, dass ihn jemand anruft und fragt, wie das alles so weit kommen konnte. Aber es hat niemanden interessiert.
Pfarrer Schmidt kennt Mahmud Khalid seit mehr als 20 Jahren. Er konnte dem Jungen beinahe dabei zusehen, wie er sich im Laufe der Jahre radikalisierte. Radikalisierung findet aber niemals im luftleeren Raum statt. Schmidt sagt: „Unsere Gesellschaft ist zumindest dafür verantwortlich, dass Mahmud für seine Taten anfällig wurde.“ Er sagt: „Dieser Fall ist made in Germany.“
Pfarrer Schmidt hat Mahmud das erste Mal gesehen, als dieser vier Jahre alt war. Die Familie war mit einem Schleuser vor dem alten Assad-Regime in Syrien geflohen. Sie waren Palästinenser, die in Syrien lebten. Palästinensische Flüchtlinge gelten in vielen arabischen Staaten als Bürger zweiter Klasse. Auch das syrische Regime verweigert ihnen die syrische Staatsbürgerschaft. Sie gelten als staatenlos. Die Familie Khalid soll zudem einer Oppositionsbewegung nahegestanden haben. Das, so sagten sie, war der Grund für die Flucht.
Doch auch in Deutschland nehmen die Sorgen kein Ende. Sie werden in einem renovierungsbedürftigen Haus einquartiert. Schmidt unterstützt die Familie. Die Eltern tun sich schwer mit der deutschen Sprache, aber die Kinder lernen schnell. Mahmud besucht Schmidts Religionsunterricht, er nimmt an evangelischen Freizeiten teil. „Er ist nie als übermäßig gläubig aufgefallen“, sagt Schmidt. An der BBS Westerburg besteht er das Fachabitur und will später studieren. Er ist längst in der deutschen Gesellschaft angekommen – nur auf dem Papier noch nicht. Denn auch Jahre nach der Flucht bestimmt die illegale Einreise das Leben der Familie. Die Familie erhält keine Aufenthaltserlaubnis. Ihre Abschiebung wird nur vorübergehend ausgesetzt. Die Behörden nennen dies Duldung. „Die Angst vor der drohenden Abschiebung hat das Leben der Familie geprägt“, sagt Schmidt.
Es ist wohl so, dass sich die Eltern bei den Behörden nicht immer kooperativ verhielten. Es gibt diesen Vorwurf der Namensfälschung. Tatsächlich geht es um einen Buchstaben im arabischen Alphabet. Vielleicht wurde er vergessen, undeutlich aufgeschrieben oder falsch übersetzt, vielleicht wurde er aber auch bewusst geändert, um die Identität zu verschleiern. Viele Flüchtlinge machen dies aus Angst vor einer Abschiebung. Die Eltern sollen sich zudem nicht um neue Dokumente bei der Botschaft gekümmert haben. Aber kann man von jemandem verlangen, dass er sich Ausweise in der Botschaft des Regimes besorgt, damit er endlich abgeschoben werden kann?
Auch für Mahmud haben die bürokratischen Auseinandersetzungen Folgen. „Mahmud Khalid hat diese Vorwürfe geerbt“, sagt Schmidt. Wegen der Duldung dürfen die Khalids nicht arbeiten. Geduldete Asylbewerber dürfen nur in Ausnahmefällen Arbeit aufnehmen. FDP, Grüne und SPD wollen die Arbeitsaufnahme von Asylbewerbern erleichtern. Aber noch ist dies nicht mehr als ein Wahlversprechen. Schmidt sagt: „Diese prekäre Lebenssituation hat Mahmud ins Abseits getrieben.“
Der Moment, in dem der Pfarrer merkt, dass etwas mit Mahmud passiert, wird erst kommen. Mahmud bemüht sich 2008 um einen Studienplatz in Siegen. Von Unnau in die Universitätsstadt sind es gerade 50 Kilometer. Mahmud hätte den Bus nehmen können oder die Bahn. Aber es gibt ein Problem. Siegen liegt in Nordrhein-Westfalen, in einem anderen Bundesland. Geduldete Asylbewerber dürfen das Bundesland nicht verlassen. Die Aufhebung der Residenzpflicht wird seit Jahren von Flüchtlingsorganisationen gefordert.
Wieder will der Pfarrer helfen. Er schreibt Briefe an Politiker und Behörden. Er bemüht sich um eine Verlassenserlaubnis. Ein Onkel Mahmuds erklärt sich zudem bereit, das Studium zu finanzieren. Aber Mahmud wird der Studienplatz verwehrt. „Mahmud zog sich immer mehr zurück“, sagt Schmidt.
Der staatenlose Mahmud Khalid bleibt so auch in Deutschland nach fast 20 Jahren ein Fremder. Im Internet aber wird er in dieser Zeit zum Teil einer großen Sache. „Er hat Beachtung und Bedeutung gesucht“, sagt Pastor Schmidt, „und im Internet hat er sie gefunden.“ Im Netz findet er eine Identität und endlich auch die Anerkennung. Er muss ein Held in der Szene gewesen sein. Tausende Mitglieder soll seine Propagandaseite am Ende gehabt haben.
Schmidt ist sich heute sicher, dass dieser Fall hätte vermieden werden können. Er hätte sich gewünscht, dass jemand früher bemerkt, was mit Mahmud geschieht. Vielleicht wäre es dann anders gekommen. „Ich glaube, dass es niemanden gibt, der nicht positiv auf Zuwendung reagiert.“
* Namen geändert