Mainz – Mit versteinerter Miene und Tunnelblick stapfte Jan Kirchhoff vom Spielfeld durch die Katakomben der Commerzbank-Arena in die Kabine.
Das war alles etwas viel, was da über den 20-Jährigen hereingestürzt war, um sich nun, unmittelbar nach dem Abpfiff, den Fernsehkameras zu stellen. So etwas fällt selbst alten Haudegen schwer. Überraschendes Bundesligadebüt in der Startelf des FSV Mainz 05. 90 Minuten Spielzeit. Ausgerechnet in Frankfurt, der Heimatstadt des 05-Profis. Ungewohnte Position. Und schließlich diese Aktion in der 83. Minute, als Schiri Florian Meyer Kirchhoffs Abwehr als elfmeterreif bewertete. Theofanis Gekas verwandelte den strittigen Strafstoß und schickte die 05er wieder einmal als Derby-Verlierer nach Hause über den Rhein.
Nicht ganz eine Stunde später trat Jan Kirchhoff geduscht und gefasst vor die wartende Journalistenschar und nahm sachlich, präzise, unaufgeregt und eloquent Stellung dazu, wie er in seinem ersten Bundesligaspiel der entscheiden Mann dieses aufregenden, aber fußballerisch eher dünnen Rhein-Main-Schlagers geworden war. „So etwas passiert. Das ist Fußball“, erklärte der 05-Spieler.
„Für mich war es ganz klar kein Handspiel.“ Er habe sich die Szene in der Kabine mehrfach gründlich im Fernsehen angesehen. Der erste Ballkontakt sei an die Brust gegangen. „Der Schiedsrichter sagt, er habe den zweiten Kontakt gepfiffen. Unterarmspiel. So weit ich mich erinnern kann, habe ich den Ball aber nach der Brust mit dem Oberschenkel gespielt. Hand kann nicht sein“, führte der 20-Jährige in ruhigem Ton aus.
Linienrichter hob die Fahne
„Der Schiri war da gar nicht so sehr dran beteiligt. Der Linienrichter hatte sofort die Fahne oben“, so Kirchhoff. „Es ist passiert. Ich habe einen kleinen Stoß in den Rücken bekommen. Wenn der nicht kommt, stehe ich gerade hinter dem Ball und habe ihn in der Mitte vor der Brust, kann ihn klar mitnehmen. So aber ist er etwas an die Seite gegangen, Richtung Schulter, aber es war immer noch kein Handspiel. Der Schiedsrichter hat ja, wie gesagt, diesen ersten Kontakt gar nicht gepfiffen. Er hat was anderes gesehen, als ich gefühlt habe.“
Seinen ersten Bundesligaeinsatz hatte sich der gebürtige Frankfurter, den die 05-Nachwuchsabteilung 2007 aus der A-Jugend der Eintracht nach Mainz gelockt hatte, anders vorgestellt. „Mit einer Niederlage zu starten und kurz vor Schluss ein solches Handspiel gepfiffen zu kriegen, ist natürlich nicht optimal. Ich freue mich aber riesig, dass ich spielen durfte. Vor allem hier, weil Frankfurt meine Heimatstadt ist“, sagte Kirchhoff.
Im Abschlusstraining mit dem Ausfall von Eugen Polanski ahnte der 20-Jährige, dass die Stunde gekommen war. „Man sieht ja, wer welche Leibchen kriegt.“ Am Samstagmorgen erklärte Thomas Tuchel dem Talent die Aufgabe. Der gelernte Innenverteidiger spielte vor der Abwehr in einem System mit drei Sechsern. Wobei Jan Kirchhoff abgesetzt nach hinten operieren sollte. Der junge Mann, das steht fest, spielte eine fehlerlose Partie. Kirchhoff spielte allerdings eine Rolle, die es kaum gebraucht hätte. Denn die Frankfurter kamen taktisch nicht so, wie von Tuchel erwartet. Dazu kam, dass die Grundordnung im 4-3-3 den 05ern nicht lag. Ohne die taktische Sicherheit leistete sich der Verbund zu viele Fehler.
Vom Bundesliga-Einsteiger nun erwarten zu wollen, dass er seine Freiheiten, die ihm die Position offerierte, dazu nutzen würde, das problematische Mainzer Spiel nach vorne zu treiben, als Spielmacher von hinten heraus aufzubauen, wäre zu viel verlangt. Kirchhoff machte seine Sache gut, darüber waren sich nachher alle einig. Der 20-Jährige hat die nötige Technik, die Ruhe am Ball, ist körperlich nach dem Jahr Verletzungspause wieder voll auf der Höhe und steht bei den 05ern in den Startlöchern für neue Aufgaben.
„Das war nicht meine Stammposition heute“, betonte Kirchhoff nachher. „So, wie die taktische Auslegung war, kam es aber der Innenverteidigung schon sehr nahe und war deshalb für mich taktisch keine große Umstellung.“ Seine Aufgabe sei es gewesen, defensiv kompakt zu stehen und mit den Innenverteidigern zusammenzuarbeiten. Das sei für ihn nicht so viel schwieriger gewesen als hinten drin zu spielen. „Die taktische Formation mit den drei Sechsern und einem davon direkt vor der Abwehr hat gut auf mich gepasst. Wir haben das ja auch deshalb gemacht, weil wir mit Alex Meier auf der zehn gerechnet haben.“
Eintracht-Coach Michael Skibbe durchkreuzte den 05-Plan, brachte Ioannis Amanatidis als hängende Spitze, der sich häufig zurückfallen ließ und dann von Kirchhoff übernommen wurde.
„Wenn das Anforderungsprofil so ist und ich spielen darf, freue ich mich jedes Mal aufs Neue. Jeder, der in der Startaufstellung steht, sieht so etwas als Belohnung für seine Trainingsleistung“, sagte der 20-Jährige, der sich allerdings weiterhin hinten anstellen muss. „Wir hatten eine komfortable Punktesituation, die Mannschaft steht stabil. Wir wollten das mit Jan deshalb mal probieren“, erklärte Tuchel später die Aufstellung. „Gegen einen großen Zehner wollten wir einen kopfballstarken Mann haben.“ Kirchhof müsse jedoch nach wie vor einen langen Atem und viel Geduld haben, sagte der 05-Trainer. In der 05-Innenverteidigung sei es im Moment schwer, das Talent unterzubringen.
Keine Ausleihambitionen
Spekulationen darüber, er wolle sich mangels Spielpraxis ausleihen lassen, nahm Kirchhoff selbst den Wind aus den Segeln. „Ich selber habe gar nicht darüber nachgedacht. Mir wurde die Frage gestellt, wie ich dazu stehe, dass Stefan Bell sehr erfolgreich ausgeliehen wurde. Da habe ich nur gesagt, dass dies ein interessantes Thema sei“, erzählte Kirchhoff. "Ich habe jedenfalls keinen Kontakt mit anderen Vereinen oder plane irgendetwas in dieser Richtung. Ich bin in Mainz und freue mich tierisch, dass ich heute mein erstes Bundesligaspiel machen durfte.
Jörg Schneider