Udo Herkenroths Beitrag zu unserem Schreibwettbewerb: „Ein Kurzgeschichten-Autor für unsere „Lobo-RZ“.
Er blickte mehr der Ordnung halber auf den Bildschirm. Alles wie gehabt, der fünfte Tag ohne das Internet. Weltweit weg. Eigentlich fing die Geschichte ja bereits eine gute Woche vorher an.
Anfangs waren es nur kurze Aussetzer im Netz. Ein, zwei Stunden ohne Verbindung. Wie immer, wenn etwas besonderes geschah, machte die Netzgemeinschaft gleich ihre Witzchen. Die sozialen Netzwerke quollen über von geistigen Ergüssen. In Facebook, Wer-kennt-wen, Twitter und anderen Treffpunkten im Netz gab es fast nur noch ein Thema.
.Die Aliens geben uns unseren Virus zurück #independenceday. @bessserwissser
.Das Internet geht uns nur einen Schritt voraus #abgrund. @apocalypsesofort
.The empire strikes back. @spacebear2000
Als die Pausen der Blackouts im Netz länger wurden und die Nervosität der User größer, konnte man in den kurzen Zeitspannen, in denen das Web funktionierte, die Ratlosigkeit mit Händen greifen. Tatsächliche und selbsternannte Fachleute spekulierten auf den einschlägigen Seiten, in Blogs und Foren, aber auch in den Internetpräsenzen der großen Tageszeitungen, woran es wohl liegen könne, aber keiner fand irgendwelche Anhaltspunkte. Alle Programme und Routinen funktionierten, zumindest theoretisch, aber in der Praxis sah es völlig anders aus.
Und nach sieben Tagen stand das Internet still. ....und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken.... Das alles lag nun schon vier Jahre zurück und war ja eigentlich nur der Anfang. Die nachfolgenden Geschehnisse schienen den schlimmsten Unkenrufern der ersten Tage Recht zu geben. Fast täglich fielen andere Dinge aus. Navigationssysteme, Mobilfunk, Telefax, Mikrowelle, Fernsehen, Radio, Telefon. Es schien so, als drehe jemand am Rad der technischen Evolution, drehe die Zeit zurück. 2000, 1990, 1980, 1970, 1960, 1950. Man wurde an ein chinesisches Märchen erinnert, in dem sich die Zeit einfach umkehrt.
Immer mehr technische Errungenschaften verschwanden. Das heißt, sie verschwanden nicht, sondern sie funktionierten einfach nicht mehr. Aus iPods, Flatscreens und TomToms wurden Museumsstücke. In einem Museum der Gegenwart, das immer mehr einem Museum der Zukunft glich. Doch je weiter das Phänomen voranschritt, umso mehr wuchsen die Menschen mit den Problemen. Man arrangierte sich. Nicht die Krisengremien der Regierungen, der Senate und Räte waren es, die Lösungen boten, sondern der einzelne Mensch, die Familie, die Hausgemeinschaft, die Nachbarschaft, das Dorf, das Stadtviertel. Man redete wieder miteinander und zwar nicht im Chat, am Telefon, per SMS oder via Mail, sondern real über den Gartenzaun, an den Stammtischen, auf der Straße. Man traf sich abends und an Wochenenden und begann, die anstehenden Probleme tatkräftig anzugehen. Man saß wieder zusammen, redete und hörte zu. Man wartete darauf, was als nächstes geschehen würde, aber man war darauf vorbereitet. So dachte man jedenfalls.
Der Morgen des vierten Jahrestages, des Tages, an dem alles begann, war eigentlich ein Tag wie jeder andere in den letzten Monaten, nur die Ruhe in den Straßen, an die man sich noch immer nicht so recht gewöhnt hatte, war vielleicht etwas beunruhigender als sonst. Als sich plötzlich der Himmel, an dem vorher kein Wölkchen zu sehen gewesen war, verdunkelte und ein seltsamer Luftzug entstand, dauerte es keine Minute und ... Schweißgebadet wurde er wach, als der Wecker rebellierte. 6:15 Uhr. Wie jeden Morgen. Er fühlte sich um Jahre gealtert. Es war keine Stunde her, dass er das letzte mal auf die Uhr gesehen hatte und doch schien es ihm eine Ewigkeit her zu sein.
Er quälte sich aus dem Bett und weckte wie jeden Morgen auf dem Weg zum Bad mit einem Knopfdruck den Laptop, der zwischen halbvollen Aschenbechern, verschmierten Tassen und klebrigen Gläsern im Standby-Modus auf dem Schreibtisch in der Diele stand. Er konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Der Typ im Spiegel sah genauso ratlos aus.
Meine Güte, was für ein Traum. Vier Jahre in 60 Minuten. Das glaubt mir kein Mensch. Im Netz nicht und auch nicht im Büro. Aber da hört mir ja eh keiner zu.. Der Rückweg aus dem Bad in die Küche, wo noch eine Thermoskanne mit halbwarmem Kaffee vom Abend zuvor auf ihn wartete, führte ihn wieder am Schreibtisch vorbei. Im gleichen Augenblick war er hellwach. Denn lediglich ein dunkelblauer Bildschirm und ein langsam verblassendes Cursorblinken begrüßten ihn dort. C:/_