Berlin/Mainz
Stadtschreiber Ingo Schulze will kein Chronist sein

Mit dem Autor Ingo Schulze zieht ein prominenter Stadtschreiber in Mainz ein, der sogleich klare Ansagen macht. Man darf also durchaus gespannt sein. Foto: dpa

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Berlin/Mainz - Ingo Schulze ist Stadtschreiber des Jahres 2011 - und als er im Telefongespräch erfährt, dass die Mainzer durchaus dazu neigen, sich ihre Stadtschreiber genauer anzuschauen, freut er sich sehr.

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Berlin/Mainz – Ingo Schulze ist Stadtschreiber des Jahres 2011 – und als er im Telefongespräch erfährt, dass die Mainzer durchaus dazu neigen, sich ihre Stadtschreiber genauer anzuschauen, freut er sich sehr.

„Ich finde das wunderbar. Nichts ist schöner, als Aufmerksamkeit zu bekommen, dann kommt man ins Gespräch. Und es ist doch so, dass man seine Bücher erst durch andere kennen lernt.“

Mit Mainz verbindet der in Berlin lebende Autor einiges. „Für mich ist das vor allem die Stadt von Anna Seghers. Ich find's auch gut, dass Döblin da nach dem Krieg hingegangen ist, um die Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu gründen. In Mainz habe ich den Joseph-Breitbach-Preis und den Aspekte-Literaturpreis bekommen, und ich war bei ,Literatur im Foyer' beim SWR zu Gast.“

Am Amt des Mainzer Stadtschreibers reizt ihn vor allem eines: „Ich habe die Chance, mit dem Elektronischen Tagebuch einen Dokumentarfilm für das ZDF zu drehen.“ Dem Autor schwebt schon ein Thema vor. Es soll um die Terra Preta, die schwarze Erde im Amazonasgebiet, gehen. Bisher galt der Regenwald dort als ungeheuer artenreich, aber außergewöhnlich nährstoffarm – bis Forscher jene Terra-Preta-Areale entdeckten, zwei bis drei Hektar große Gebiete aus fruchtbarer Erde. Diese Hinterlassenschaften einer alten Indio-Kultur faszinieren Schulze, sie könnten Möglichkeiten zur Urbarmachung karger Böden eröffnen.

Doch zurück nach Mainz: Für Lesungen wird der Autor ebenfalls zu haben sein. „Ich mache das gern, in bin oft in Schulen. Dort habe ich die schönsten und die schrecklichsten Lesungen erlebt.“

Oberbürgermeister Jens Beutel (SPD) ist angetan vom neuen Stadtschreiber. Er sieht ihn als „mündigen Chronisten“ der Wiedervereinigung, als Autor, „der die Brüche, Wandlungen und schmerzlichen Weichenstellungen mit und nach dem Mauerfall skizzierte“. Kulturdezernentin Marianne Grosse (SPD), die mit Vertretern von ZDF, 3sat und ehemaligen Stadtschreibern in der Jury sitzt, meint: „Wir gewinnen einen spannenden Stadtschreiber, der mit zu meinen Favoriten gehörte und auf den ich mich außerordentlich freue.“ Sein Buch „Neue Leben“ würde sie gern als exemplarischen Wenderoman bezeichnen, doch sie weiß, wie sehr sich Schulze an solchen Kategorien reibt.

Tatsächlich stört sich der Autor an vielen Bezeichnungen. „Das fängt bei ,Wende' an. Das ist ein Begriff, den ich nicht benutze. ,Chronist' finde ich auch doof, und die Wiedervereinigung gab es nicht, das war ein Beitritt“, sagt der 47-Jährige. „Ich schreibe halt über die Zeiten, die ich erlebt habe. Mich interessierte dabei auch: Wie hat sich der Westen 1989/90 verändert? Wie kam es, dass alles Private plötzlich als gut, alles Gemeineigentum als schlecht galt?“

Ein Telefongespräch reicht, um festzustellen, dass Mainz einen streitbaren Stadtschreiber bekommt. „Ich bin gespannt, Mainz näher kennen zu lernen“, meint Schulze. „Aber wir müssen bis Februar warten. Vorher reise ich nach Kuba, Kolumbien und nach Brasilien.“ Zur Terra Preta, jener Erde, über die er einen Film drehen will.

Gerd Blase