Gekommen, um zu leben Palliativ, lateinisch für Mantel. Unheilbar Kranke umhüllen wie einen Mantel, das ist das Ziel, für das Ärzte und Pfleger in der Palliativmedizin antreten. Eine Reportage von einer Station, die keine Endstation ist. Der Tod und das Sterben erscheinen nah an diesem Ort. Denn es geht hier um Menschen, deren Krankheit unheilbar ist. Viele haben Krebs.
Die meisten können nicht mehr aus ihren Betten aufstehen, sie sind blass und schwach. Ihr Kampf kostet Kraft. Sie kämpfen gegen Schmerzen oder Luftnot– und große Angst. Und dennoch: Es geht hierumdas Leben. Ein Morgen auf der Palliativstation des Kirchener Krankenhauses. Es ist ruhig, die Schwestern sind mit der Pflege der Patienten beschäftigt.
Der Flur ist in ein dämmriges, warmes Licht getaucht. Rot-, Orangetöne und Holz vermitteln hier die Atmosphäre – Krankenhaus, das ist vor der gläsernen Stationstür. Über den Gang kommt Herr Bachmann* aus Zimmer 3 in kleinen Schritten auf seinen Rollator gestützt. Er hatte eine besonderen Wunsch – Schwester Conny hat ihn erfüllt und ihn gebadet. „Die setzen alle Hebel in Bewegung“, betont er. „Man fühlt sich wie in einer Familie.“
Der 71-Jährige ist zum zweiten Mal da und gibt sich tapfer: „Warum soll ich verzweifelt sein, wenn mir geholfen wird?“ Herr Bachmann hat Krebs in der Speiseröhre. Seit zwei Tagen kann er nicht mehr schlucken. Bei vielen, die auf die Palliativstation kommen, ist es anders als bei Herrn Bachmann: Palliativstation, das bedeutet in der Öffentlichkeit oft Endstation. Dabei arbeiten hier im Gegenteil alle daran, die Patienten zu stabilisieren und gut eingestellt schnell wieder nach Hause lassen zu können.
Herr Bachmann durfte am vergangenen Sonntag ausnahmsweise schon einmal kurz nach Hause – zum Formel- 1-Schauen. Denn der Fernseher auf der Station ist ihm zu klein. „Das war schön“, erzählt Herr Bachmann, als er wieder auf dem Bettrand sitzt. Mit seinem eigenen „Rallye-Monte-Carlo- Gerät“ dreht er öfter eine Runde durch das gemütliche Wohnzimmer und die Küche, die es für die Patienten gibt. Herr Bachmann scherzt gern mit den Schwestern – da verliert auch der „Kackeimer“, wie er den Toilettenstuhl nennt, den eine Helferin an ihm vorbei über den Flur trägt, seinen Schrecken.
Das Team versucht, vieles möglich zu machen. „Der Wille der Patienten ist entscheidend“, sagt Dr. Janine Düber, die Oberärztin. Sie entscheiden zum Beispiel, wann und was sie essen, wann sie gewaschen werden möchten.
Aber es geht um mehr: „Was können wir tun?“ Diese Frage steht auf der Palliativstation nicht dafür, was gegen die Krankheit noch getan werden könnte – sie gilt dem Menschen. Hat er noch etwas zu regeln? Will er jemanden sehen oder jemandem noch etwas sagen? Das Teamhilft, das zu organisieren.
Manchmal wünschen sich die Patienten, dass ihr Hund oder ihre Katze noch einmal zu ihnen kommen kann. Die Patienten können hier Geburtstag feiern oder Freunde einladen. Dann wird gelacht und gesungen, manchmal sogar getanzt. Es geht um Lebensqualität für die Zeit, die ihnen bleibt.
Vor allem aber haben die Mitarbeiter Zeit für die Patienten in ihrer Not. Gespräche machen auch einen großen Teil ihrer Arbeit aus. Gespräche auch über den Sterbeprozess und den Tod, die nicht jeder verkraftet und führen kann oder will. Dafür ist zudem Seelsorgerin Jutta Braun-Meinecke da. Sie will die Menschen dabei begleiten, ihre Krankheit anzunehmen. Da ist Angst vor dem Tod. Was kommt danach? Da ist Angst vor dem Sterben. Werde ich ersticken? Da ist Angst, die Angehörigen zurückzulassen.
Was sagt man Menschen, für die es aus medizinischer Sicht keine Hoffnung mehr gibt? „Das wird schon wieder“, sagt hier niemand. „Vertrösten ist kein Trost. Man muss aufnehmen, was ist, und schauen, was man daraus machen kann“, meint die Pfarrerin. Jutta Braun-Meinecke bietet Hilfe im Glauben und im Gebet, doch oft geht es einfach ums Zuhören in Stunden voll Wut, Hilflosigkeit, Angst oder Verzweiflung.
Die Patienten werden in unterschiedlichen Phasen hier aufgenommen – nicht nur hinsichtlich ihrer Krankheit. Einige sind wütend, manche verdrängen ihr Schicksal vollkommen, andere sind depressiv. Und auch die Angehörigen machen verschiedene Phasen durch – selten zeitgleich mit dem Kranken.
Die Mitarbeiter stehen mit Gesprächen und Rat auch an deren Seite. „Zu akzeptieren, dass ein Prozess begonnen hat, der unumkehrbar ist, ist sehr schwer“, sagt Jutta Braun-Meinecke. Nicht jeder schafft das, will akzeptieren, dass eine aggressive Therapie nicht mehr sinnvoll ist.
Manfred und Luise Meyer hatten einige Jahre Zeit, sich vorzubereiten. Manfred Meyer (66) leidet an einer Art Blutkrebs. Lange konnte das Ehepaar ohne große Einschränkungen leben. Doch sie wussten, wie sich die Krankheit entwickeln wird. Trotzdem bekam Luise Meyer einen Schrecken, als sie hörte, es geht auf die Palliativstation. Jetzt liegt ihr Mann im Bett von Zimmer 5.
Ganz weiß und mager ist er. Beide scheinen nun aber doch erleichtert, dass er hier versorgt werden kann.
Ein Lächeln geht durch das Gesicht von Manfred Meyer. Er freut sich auf seine Töchter, die ihn bald besuchen. Die Sonne scheint ins Zimmer, und Luise Meyer (60) reicht ihrem Mann eine Tasse Tee von dem kleinen Tisch, an dem sie neben dem Bett sitzt. „Es ist so ruhig hier, keine Hektik“, beschreibt sie. Später wird Manfred Meyer eine Blutkonserve bekommen.
„Vielleicht ist es ja noch ein paar Wochen besser“, sagt er. „Vielleicht, Manfred“, lenkt sein Frau ein und schaut ihn mit wachsamem Blick an. Die beiden sehen klar auf ihre Situation. „Der Wunsch auf Heilung ist illusorisch“, sagt Luise Meyer bestimmt. Die 60-Jährige ist apart, sie strahlt Energie aus. Doch so stark ist sie nicht immer. „Ich bin auch Verdrängungsweltmeisterin“, bekennt sie. „Ich verbiete mir den Gedanken, was ist, wenn er nicht mehr da ist.“ Sie wünscht sich vor allem, dass ihr Mann nicht lange leiden muss.
Ihr beider Schicksal ist schrecklich und der unverhüllte Blick darauf schwer auszuhalten. Genauso tief aber berührt, wie viel Liebe, Zusammenhalt und Stärke ihre Gemeinschaft in dieser wohl schwersten Zeit ihres Lebens ausstrahlt. Nach einem Wunsch gefragt, dreht Manfred Meyer den Kopf zu seiner Frau und sagt: „Dass du zu mir hältst.“ Als ob das infrage stünde. Manfred und Luise, sie sind seit 43 Jahren verheiratet. Sie sind ein bewundernswertes Paar.
Es sind wohl solche Situationen, die die Schwestern meinen, wenn sie beschreiben, dass sie eine befriedigende Arbeit haben. „Es ist nicht immer einfach, so viel Leid mitzutragen“, erzählt Schwester Pia später, als sie gerade am Schreibtisch Patientenakten durchsieht. „Aber man bekommt auch sehr viel wieder von den Menschen.“ Nach der Übergabe am Mittag setzt sich Schwester Conny zu einer neuen Patientin ins Zimmer. Sie hat große Schmerzen. Aber nicht nur die Beschwerden spielen bei dem Aufnahmegespräch eine Rolle, auch alles andere, was belastet oder helfen könnte. Und die Frau hat einige familiäre Schwierigkeiten.
„Was können wir denn jetzt für Sie tun?“, fragt Schwester Conny, da fängt die Frau an zu schluchzen, als habe sie das lange niemand mehr gefragt. Schwester Conny nimmt sie in den Arm. Die Patientin hat Brustkrebs und Metastasen, überall. Entdeckt wurde das erst vor wenigen Wochen. Sie wird in den nächsten Tagen viel weinen. Erst langsam wird sie realisieren, in welcher Situation sie ist.
Ein Großteil der Patienten kann nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause. Wenn aber Menschen auf der Palliativstation versterben, werden sie auch in den letzten Stunden intensiv begleitet. Wenn ein Patient es wünscht, können die Ärzte im Rahmen einer sogenannten palliativen Sedierung stark beruhigende Medikamente geben, wenn Ängste und Unruhe trotz allem unerträglich für ihn sind. Die Verstorbenen bleiben noch eine Weile auf dem Zimmer, und die Pfarrerin feiert mit der Familie ganz in Ruhe eine Aussegnung.
Auf der Palliativstation gibt es alte und junge Patienten, Frauen und Männer, junge Mütter und Väter bisweilen, die sich manchmal verabschieden müssen. Aber bis es so weit ist, geht es um das Leben. „Hier herrscht keine Todesstille“, sagt Schwester Pia. „Es wird auch viel gelacht und albernes Zeug geredet.“ Das ist gut so. Und beruhigend. Die Krankheit der Menschen ist unheilbar, aber ihr Leid kann gelindert werden.
(*alle Patientennamen geändert)
Von Stefanie Helsper