Brüssel
Null Verständnis: EU-Parlament sauer auf Karlsruhe
dpa

Brüssel - Kaum hatte das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch die 3-Prozent-Klausel für die Europawahl im Mai gekippt, begann in der Straßburger Volksvertretung auch schon das große Schimpfen. 

„Ich nehme diese Entscheidung mit Respekt entgegen, auch wenn ich mir ein anderes Ergebnis gewünscht hätte“, machte der Präsident des Plenums, Martin Schulz (SPD), seinem Unmut noch verhältnismäßig zurückhaltend Luft. Deutlicher wurden dann schon die Chefs der CDU- und der CSU-Abgeordneten, Herbert Reul und Markus Ferber: „Das Gericht hat die Chance verpasst, die neuen Realitäten in Europa anzuerkennen.“ Schließlich habe die Abgeordnetenkammer der EU seit dem Start des Lissabonner Vertrages 2009 einen „Qualitätssprung“ gemacht, die „demokratische Legitimation“ sei weit vorangeschritten. Der CDU-Politiker Axel Voss wurde besonders deutlich. Er nannte den Richterspruch „arrogant und ignorant“.

99 Abgeordnete werden derzeit von deutschen Parteien gestellt, ab Mai werden es nur noch 96 sein, weil das Parlament auf 751 (derzeit 766) Mandate verkleinert wird. Um dann einen der begehrten Sitze im Straßburger oder Brüsseler Plenum zu erhalten, dürfte weniger als 1 Prozent der Stimmen reichen. Als Folge befürchten viele „Zustände wie in der Weimarer Republik“, sagt die SPD-Europa-Politikerin Kerstin Westphal, „als Kleinstgruppen und Einzelpersonen anstatt große Fraktionen“ das Tagesgeschäft bestimmten. „Die Aufgabe für die Zukunft besteht darin, ein einheitliches Wahlrecht in der Europäischen Union zu schaffen“, forderte ihr Parteikollege Matthias Groote. „Damit jede abgegebene Stimme das gleiche Gewicht hat.“

Nach dem Karlsruher Urteil gehört Deutschland zu einer Minderheit innerhalb der Europäischen Union. In praktisch allen großen Mitgliedstaaten gibt es 4- oder 5-Prozent-Hürden. Lediglich einige kleinere Nachbarn haben auf vergleichbare Sperrklauseln verzichtet. Hochrechnungen belegen, dass die Auswirkungen auf die derzeitige Zusammensetzung des Parlamentes allerdings eher begrenzt wären. Hätte die Bundesrepublik schon 2009 kleinere Parteien nicht ausgesperrt, säßen heute nicht 162, sondern 169 Parteien im Parlament – mit sieben Abgeordneten, die vermutlich keiner großen Fraktion angehören würden.

Diese Sitze wären den starken Parteienfamilien jedoch verloren gegangen – mit spürbaren Folgen: Das Europäische Parlament hätte durch eine weitere Zersplitterung gegenüber dem Ministerrat sowie dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs womöglich an Gewicht verloren. Schon heute regieren die Staatschefs nur allzu gern an den Volksvertretern vorbei, indem sie sich der zwischenstaatlichen Absprachen bedienen. Eine Versuchung, der sie künftig noch häufiger erliegen könnten.

Zwar begründet die Mehrheit der Karlsruher Verfassungsrichter ihre Auffassung mit dem Hinweis, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlamentes nicht in Gefahr gerate. Der Arbeitsalltag zeigt allerdings das genaue Gegenteil: Die Gesetzgebung gestaltet sich ohnehin schon schwer genug, weil Mehrheiten mühsam beschafft werden müssen. Derzeit stellen die Konservativen mit 274 Abgeordneten die Mehrheit, die aber bei Abstimmungen nicht ausreicht. Zu den Sozialdemokraten gehören 194 Mandatsträger, die Liberalen folgen mit 85, die Grünen mit 58. Dann schließen sich weitere Konservative mit 57 an, die Linke hat 35 Sitze, 31 weitere Abgeordnete gehören EU-skeptischen Parten an. Die 32 fraktionslosen Abgeordneten spielen im Arbeitsalltag keine Rolle. Es könnte aber die Gruppe sein, die im Mai besonders viel Zulauf aus Deutschland erhält. Detlef Drewes