In der kleinen Kirchengemeinde Becherbach wurde Weltgeschichte zelebriert: Rund um die Kirche tauchten am Samstag gut 200 Besucher ein ins Mittelalter, genossen das Themenspektrum von schwerer geistiger Kost bis zum Fressen und Saufen nach deftiger Luther-Art. Ein Gegenpol zum Halloween-Spektakel hatte der damalige Becherbacher Pfarrer Horst Grothe mit dem Luther-Schauspiel angezettelt und den Jugendklub um Achim Engel begeistert. Ja, Engel war als „Reichsherold“ Kaspar auch bei den vierten Becherbacher Luther-Spielen nach 2005, 2009 und 2013 begeisterter und begeisternder Dreh- und Angelpunkt der Reformationsfeier.
Das Wetter spielte nicht ganz mit, und Engel hätte sich mit seinen Mitstreitern für die elfmonatige Probezeit mehr Resonanz gewünscht. Wer den Mittelaltertag im Flecken Becherbach genoss vom mittäglichen Forellenessen bis zur nächtlichen Feuershow, sparte aber nicht mit „Handgeklapper“. Beifall hatten die Akteure auf und hinter der Bühne reichlich verdient. Das ging vom Backen der 45 Festtagskuchen bis zum Ausschmücken des Festplatzes mit frischem Reisig aus dem Wald und Strohballen als Sitzgelegenheiten. Die kleinste Gemeinde im Kirchenkreis hat Großes bewegt und kann stolz auf ihre Leistungen sein. Dauert es jetzt erneut eine „Olympiade“, volle vier Jahre, bis zur Wiederholung? Schade wär's.
500 Jahre Reformation. Das war das Thema in Becherbach. Eigentlich wären es noch ein paar Wochen hin bis zum historisch korrekten Datum. Aber wegen der Terminhatz mit vielen Überschneidungen auch in den Nachbardörfern hielt man die Vorverlegung für angebracht. Was spielt's bei einem halben Jahrtausend seit dem Eklat von Wittenberg für eine Rolle?
Wer wollte, konnte tief in die Historie eintauchen. Etwa die Luther–Ausstellung in der Kirche (die größte der Region) auf sich wirken lassen. Oder die Rennaissancemusik genießen, die Heilswint und Stefan Hausmann und Jörg Elberding auf historischen Instrumenten professionell zelebrierten. Werke von Pretorius und Frescobaldi ließen sie erklingen, nutzten die grandiose Akustik der Kirche und entführten mit Viola, Bratsche und „Schlangenhorn“ Serpent ins Mittelalter. Wie wenig harmonisch es aber einst in Glaubensfragen in den Kirchen der Region zuging, erzählte Chnutz vom Hopfen, seines Zeichens Ebernburger Nachtwächter, Tanzmeister und Geschichtenerzähler aus Altenbamberg. Eine seiner kleinen wahren Geschichten: Sickingen in Ebernburg ließ die Protestanten nicht in seine Kirche. Die besorgten sich für eine Trauerfeier einen Schlüssel, feierten heimlich Gottesdienst. Soldaten trieben sie samt Sarg hinaus. Ein Schreiner musste den Altar abhobeln vom „klebrigen Schweiß der Andersgläubigen“. Geschehen in der Wehrkirche 1693.
Ja, der rechte Glaube! Darum ging's im historisch angehauchten Gottesdienst, den Pfarrerin Liesel Zumbro-Neuberger alias „die Butzerin“ (die auf der Ebernburg Asyl fand) im Wechsel zwischen Reformationsgottesdienst und Historienspektakel gestaltete. Die „Butzerin“ war die Frau des Luther-getreuen Martin Bucer. Höhepunkte waren die Kanzelablasspredigt von Johannes Tetzel (Presbyteriumsvorsitzender Wolfgang Schneider) und Luthers Kontra-Brandrede aus der Gemeinde heraus gegen die käufliche Gottesliebe. Eingebunden in einen Festgottesdienst, begleitet von Mechthild Mayer auf der Stumm-Orgel und strahlender Unterstützung des Posaunenchors, fiel vielen Besuchern das krasse Wechsel-„Spiel“ schwer: Hier die lachhaften Tetzel-Thesen und da das ernsthaft-inbrünstige Glaubensbekenntnis. Jeder kennt den Tetzel-Spruch: „Sobald die Münze im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt.“ Damals sollte der Kaiser schlappe 25 Goldgulden zahlen, Fürsten zehn, Kaufleute sechs, das gemeine Volk immerhin einen halben. Sozialverträglich sollte es sein. Schneider spannte den aktuellen Bogen zu Versicherungskonzernen und Amazon, die heute vertraglich ums Seelenheil buhlen. Und dann kommt so ein Ketzer wie Martin Luther „wie ein Wildschwein“ daher, stellt sich mit seinen Schriften bewusst außerhalb der Schafherde des Papstes auf, die doch bitte für den Petersdom-Bau fleißig Ablassbriefe kaufen sollen.
Das muss Folgen haben. Kaiser Karl und seine Fürsten lassen Luther 1521, vier Jahre nach dem Thesenanschlag, beim Reichstag in Worms antreten. Er soll widerrufen. Im Becherbacher Kirchgarten, von prasselndem Schwedenfeuer illuminiert, steigt das Theater. Die hohen Herren halten Gericht übers arme Mönchlein, das sich windet (Bedenkzeit, blah blah) und sich dann zum legendären Satz durchringt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.“ 500 Jahre später hat das Eintreten für eine Überzeugung nichts von seiner Aktualität und Sprengkraft verloren.
Da gibt's schöne Parallelen ein paar Tage vor der Bundestagswahl. Da buhlten politische Spitzenvertreter der Naheregion um die Wählergunst. CDU-Bundestagsabgeordnete Antje Lezius sitzt mit Parteifreundin und Landrätin Bettina Dickes beim Gottesdienst in der ersten Reihe. Ihre Widersacher im Bundestagswahlkampf, Joe Weingarten, MdL Denis Alt (beide SPD), stehen später beim Theaterstück im Garten zusammen mit SPD-Bürgermeister Werner Müller in der ersten Reihe.
Ein schönes „Reformationsthema“ 500 Jahre danach ist in der Region die Fusion von Stadt Kirn und Verbandsgemeinde Kirn-Land. Das bietet herrliche Parallelen: Der Bischof in Mainz ließ Ablassbriefe verteilen, um Gulden im Kasten zu horten. Heute geht's um 2 Millionen Euro Hochzeitsprämie vom Mainzer Innenminister. Fusion ist auch für die kleine Kirchengemeinde seit Jahren ein Thema. Umliegende Dörfer könnte man durchaus eingemeinden. Die Stadt Kirn lässt als Vorbild mit ihrem Plan grüßen.
Fazit: Ein halbes Jahrtausend nach seinem Aufstand prägt Luther noch die abendländische Streitkultur. Er riet bekanntermaßen dazu, selbst einen Tag vorm Weltuntergang ein Apfelbäumchen zu pflanzen. Frei übersetzt: Die Hoffnung auf ein friedvolles Miteinander in der Kirner Region stirbt zuletzt.