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Kontra: Menschen sollen verstehen, nicht verpflichtet werden

„Die Einführung einer Impfpflicht würde aber auch bedeuten, dass uns vernünftige Argumente fehlen, um die Menschen von der Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen.“ Prof. Fred Zepp

Masernausbrüche wie der aktuelle rufen uns die unveränderte Bedrohung durch die Infektionskrankheit erneut ins Bewusstsein, und es ist gut und wichtig, dass sich Gesundheitspolitik und Ärzteschaft deutlich für den Schutz durch Masernimpfung aussprechen.

Ist allerdings eine Impfpflicht tatsächlich erforderlich, um das wichtige Ziel, alle Menschen vor Masern zu schützen, zu erreichen? Grundsätzlich erlaubt das Infektionsschutzgesetz dem Gesundheitsministerium, für bedrohte Teile der Bevölkerung Schutzimpfungen anzuordnen, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.

Für eine aufgeklärte und moderne Gesellschaft sollte das Ausüben von Zwang durch den Staat allerdings immer nur dann infrage kommen, wenn alle anderen Möglichkeiten versagt haben. Mir persönlich erscheint die Durchsetzung einer Impfpflicht für Masern in Deutschland eher schwierig.

Auch wenn in einigen Umfragen aktuell eine Impfpflicht befürwortet wird, steht die Öffentlichkeit verpflichtenden Maßnahmen in der Regel eher kritisch gegenüber. Zudem wird eine Impfpflicht bei Impfgegnern voraussichtlich zu ausgeprägten Protesten und Widerständen führen. Erfahrungen aus Ländern mit Impfpflicht zeigen zudem, dass viele Eltern von Ausnahmeregelungen für ihre Kinder Gebrauch machen und die Impfquoten durch eine solche Pflicht nicht automatisch höher sind.

So sind je nach Bundesstaat in den USA bis zu 10 Prozent der Kinder von der Masernimpfung befreit und können daher keine Gemeinschaftseinrichtungen besuchen oder werden bis zum Schulabschluss heimbeschult. Eine Impfpflicht etwa zum Schuleingang würde in Deutschland auch nicht alle Probleme lösen, weil die Impfquoten bei Kindern bereits auf einem hohen Niveau angekommen sind.

Die Einführung einer Impfpflicht würde aber auch bedeuten, dass uns vernünftige Argumente fehlen, um die Menschen von der Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen. Gerade hier kann jedoch noch sehr viel getan werden. Einige europäische Länder haben bereits seit Jahren die Ausrottung der Masern und Röteln durch ausreichend hohe Impfquoten erreicht, ohne dass die Bevölkerung einer Impfpflicht unterlag.

So liegen die Masernimpfquoten in Holland, Finnland, Portugal, Schweden, Island und Großbritannien zwischen 92 und 99 Prozent, und auch Mecklenburg-Vorpommern erreicht seit vielen Jahren Impfraten von mehr als 95 Prozent für die zweifache Masernimpfung. Die hohen Impfquoten werden durch ausreichende und leicht verfügbare Informationen über Risiken und Nutzen der Impfung und über die Risiken der Maserninfektion erreicht.

Es sind also beharrliche Überzeugungsarbeit, Aufbau von Vertrauen in die empfehlenden und impfenden Institutionen, gut erreichbare Informationen und das wiederholte Angebot von Impfgelegenheiten, die ohne Zwang zu einer Verbesserung der Impfbereitschaft unserer Bevölkerung führen. Wer erkennt, dass das Risiko einer Masernerkrankung das Risiko einer Impfung bei Weitem übersteigt, wird leichter seine Verantwortung wahrnehmen und für einen wirksamen Impfschutz sorgen.

Das Gleiche gilt für alle, die wissen, dass sie mit ihrer Impfung etwa den Säugling des Nachbarn, der selbst für die Impfung noch zu jung ist und für den eine Erkrankung lebensgefährlich werden kann, indirekt schützen können. Sachgerechte Informationen und einfache Zugangswege zu Impfungen kann auch bei uns ein Erfolg versprechender Weg sein. Diese Aufgabe kann natürlich nicht allein von Kinderärzten geschultert werden. Es bedarf vielmehr umfassender Anstrengungen des gesamten Gesundheitswesens.

Jeder Kontakt muss genutzt werden, um verständlich, nachvollziehbar und vertrauensvoll über Impfungen aufzuklären. Dies beginnt bei Hebammen und medizinischem Pflegepersonal und umfasst die gesamte Ärzteschaft. Und selbstverständlich muss das Betreuungspersonal selbst über einen vollständigen Masernimpfschutz verfügen – damit schützen sie ihre Patienten und sind in der Impfaufklärung authentisch.

Darüber hinaus sollten alle Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes gestärkt werden, um intensiver das Impfwesen unterstützen zu können. In vielen Ländern mit erfolgreichen Masernimpfprogrammen werden Familien beispielsweise regelmäßig durch den öffentlichen Gesundheitsdienst an ausstehende Impfungen erinnert. Andere Länder wie Australien haben eine sehr erfolgreiche gesundheitliche Begleitung von Kindern und Jugendlichen durch die Einrichtung von Gesundheitspflegern (School Nurses) in Schulen erreicht.

Überhaupt sollten vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitserhaltung und eine gesundheitsbewusste Lebensführung stärker Eingang in die Lehrpläne des Schulsystems finden. Eine Masernimpfpflicht darf immer nur eine Ultima Ratio sein, wenn keine der angesprochenen Maßnahmen zur Kontrolle der Masern führt.

Wir haben noch viel Spielraum, unsere Anstrengungen zu intensivieren, die Menschen zu überzeugen und für Impfungen zu gewinnen. Die Tatsache, dass andere Länder das Ziel der Masernausrottung durch Aufklärung erreicht haben, erscheint als der vertrauensvollere Weg. Vertrauen ist die unabdingbare Voraussetzung für ein funktionierendes Impfsystem.