Frankfurt. Der Todesengel ist am ganzen Körper mit Augen übersät. Er sieht also alles, ihm entkommt niemand – das besagt die kleine Illustration im Glaubensbuch von 1719. Da es in der jüdischen Religion keinen Totengott gibt, muss der Todesengel die grausige Arbeit verrichten. Mit diesem Bild und zahlreichen anderen Kunstwerken bis ins 20. Jahrhundert beginnt im Jüdischen Museum Frankfurt die neue Schau „Im Angesicht des Todes. Blicke auf das Lebensende“.
Es ist die erste kulturhistorische Ausstellung über jüdische Vorstellungen, Rituale und Praktiken rund um das Sterben, den Tod und die Trauer. Und es ist – so merkwürdig das auch klingen mag – eine schöne, feinsinnige und berührende Schau, die ganz ohne bedrückende Atmosphäre auskommt. Das ist dem jungen Künstlerkollektiv YRD.works zu verdanken, das in die rund 630 Quadratmeter großen Wechselausstellungsräume einen verwinkelten Kubus aus Lehm gesetzt und ihn mit vielen überraschenden Lichtfeldern bestückt hat.
Auch im Tod dem Leben zugewandt
Hell und Dunkel wechseln sich ab wie Tag und Nacht oder Leben und Tod. Schon eingangs bringt Museumschefin Mirjam Wenzel den Grundgedanken der jüdischen Religion auf den Punkt: „Gerade weil das Leben endet, darf, ja muss das Leben gefeiert werden.“ Die jüdische Religion ist also, trotz vieler Riten, mehr dem Leben zugewandt. Das zeigt sich daran, dass das Kaddisch, das Totengebet aus dem 12. Jahrhundert, nur den göttlichen Schöpfer preist und partout nicht den Tod erwähnt.
Selbst bei Beerdigungen grüßt man sich nicht, sagt nur „Auf Simches“, übersetzt: „Mögen wir uns bei einem freudigen Fest wiedersehen“. So erfährt der Besucher viel über rituelle Objekte und Brauchtümer, die auch in Kunstwerken auftauchen. Zudem kann er das Gesehene im Reflexionsraum auf sich wirken lassen oder an einigen Stationen seine Meinung kundtun. Nach dem Auftakt „Im Angesicht des Todes“ mit den Personifikationen des Todes in religiösen Schriften und der bildenden Kunst folgt der Umgang mit dem Sterben, der schwierigste Teil der Schau.
Zunächst geht es um Sterbebegleitung, da in der jüdischen Gemeinde niemand in seinen letzten Stunden allein gelassen wird. Wer keine Angehörigen hat, wird von Freiwilligen einer Beerdigungsgesellschaft umsorgt. Heikel wird es für jüdische Gläubige erst bei der Sterbehilfe oder Organspenden. Die aktive Sterbehilfe ist verpönt; die passive Sterbehilfe ist Todkranken erlaubt, wenn keine Therapie mehr hilft oder Schmerzen lindert. Aber Organspenden sind zulässig – bei Gesunden, wenn sie sich nicht selbst in Gefahr bringen, bei Sterbenden muss der Hirntod festgestellt sein, die Organe also noch funktionieren.
Die jüdische Totenkleidung besteht aus Hemd, Hose, Gürtel und einer Kopfbedeckung, alles aus einfachem weißem Leinen, ganz ohne Taschen. Ähnlich schlicht ist der Sarg gehalten, da es, so Kuratorin Sara Soussan, im Tod keinen Unterschied mehr zwischen Armen und Reichen geben soll – damit sind wir schon im Beerdigungs-Kapitel. Nach der Beerdigung und dem Legen eines Steins auf das Grab folgt das rituelle Händewaschen, denn „die Trauergäste sind verunreinigt“, erklärt Mirjam Wenzel.
Die Künstlerin Aviva betont eher den spirituellen Gedanken: „Es ist dieser Moment des Händewaschens, der mich jedes Mal zurückholt, erinnert, dass ich und mein Körper noch eins sind, dass ich im Hier und Jetzt vollkommen und lebendig bin.“ Später stößt man auf einen Film über Besucher auf Frankfurts jüdischen Friedhöfen. Oft suchen sie schon lange verstorbene Persönlichkeiten auf, etwa Rosel Schreiber, die Mutter eines Rabbiners. „Große Gelehrte können nur von Müttern stammen, die selbst außergewöhnlich sind“, meint ein Besucher.
Das nächste Kapitel, die Trauerzeit, ist in den ersten sieben Tagen streng gehalten. Bei der Trauerfeier reißen Angehörige ihre Oberbekleidung ein und zeigen damit symbolisch ihren Schmerz, den Riss durchs Herz – das dunkelblaue Damenkleid mit eingerissenem Kragen auf der linken Seite ist ein gutes Beispiel. Jetzt reicht’s mit den Riten? Dann empfiehlt sich eine interreligiöse Ausstellungsführung, wo sich vieles klären lässt.
Die Schau endet mit der offenen Frage nach dem ewigen Leben, der „Kommenden Welt“, wie sie bei den Juden heißt. Die Künstlerin Ruth Patir hat sich diese Frage nach dem Tod ihres Vaters gestellt, den sie mit digitaler Hilfe weiterleben oder sogar wiederauferstehen lässt. Mit ihrem Video will sie dem Verlust und der Trauer etwas entgegensetzen.
Bis 6. Juli; Di. bis So. 10-18, Do. bis 20 Uhr. Eintritt 10 Euro. Katalog 28 Euro. Internet: www.juedischesmuseum.de