„Spiel ohne Grenzen war ein Straßenfeger“, erklärt Wolfgang „Deo“ Dietrich jüngeren Semestern die Bedeutung der vom WDR produzierten Fernseh-Spielshow. Das Grundprinzip war einfach. Zwei Städte traten in der Livesendung in einem Motto-Wettstreit in verschiedenen Spielen gegeneinander an. Camillo Felgen, früher unter anderem Lehrer in Kempfeld, aber vor allem ein Showmaster von Rang, führte als Moderator durch die Sendung. „Ganz viel Schmierseife war da immer im Spiel“, lacht Dietrich, der zum Idar-Obersteiner Team zählte.
Noch größere Bedeutung als Gold
Für Bernd Cullmann hat „Spiel ohne Grenzen“ sogar eine noch größere Bedeutung als sein Olympiasieg im Hundert-Meter-Staffel-Rennen von Rom elf Jahre zuvor. „Natürlich ist der Olympiasieg vom Ergebnis nicht zu übertreffen. Die Goldmedaille hat mein Leben geprägt. Aber vom inneren Gefühl und meinem Enthusiasmus steht „Spiel ohne Grenzen“ noch darüber, stellt Cullmann klar und hält fest: „Es war einfach wunderbar.“
Am 24. April 1971 stand die 75. Folge der Show an, eine Jubiläumssendung. Die Schmuckstadt Idar-Oberstein als Austragungsort bot dafür den passenden Rahmen. Einige Zeit vorher war der Olympiasieger ins Spiel gekommen. „Ich bin gefragt worden, ob ich Trainer dieses Teams sein wollte“, erinnert sich Cullmann, wohl wissend, dass sein Bekanntheitsgrad zweifellos auch eine Rolle gespielt hatte. „Es hat mich gereizt“, gibt der Tiefensteiner unumwunden zu. Wobei – besonders viele Informationen zu den Spielchen der Show gab es nicht. „Um Märchen sollte es gehen. Mehr ist vorläufig nicht durchgesickert“, erzählt Cullmann, der vorsichtig bei der Idar-Obersteiner Stadtspitze, die sich schließlich beim WDR beworben hatte, nachfragte, wie er denn eigentlich eine Mannschaft zusammenbekommen solle. „Das ist Ihr Problem, hieß es da nur.“ Noch heute schüttelt Bernd Cullmann den Kopf und muss zugleich laut lachen.
Zeitungsaufruf und Zirkelauswahl
Ein Zeitungsaufruf war der nächste Schritt. „Wer mitmachen wollte, sollte sich bei mir melden“, berichtet Cullmann, der mittlerweile auch zwei Assistenztrainer hatte, nämlich Fußball-Weltmeister Horst Eckel und Heinz Hofmann. Um Eckel hatte sich die Stadtspitze bemüht. „Weil er den SC Idar-Oberstein trainierte“, vermutet Cullmann, „und natürlich ebenfalls wegen des zugkräftigen Namens.“ Bei Heinz Hofmann hatte Cullmann selbst angefragt, und Hofmann hatte rasch zugestimmt. Er erzählt: „Ich wollte eigentlich als Teilnehmer mitmachen, aber es war klar, dass es da Ausscheidungskämpfe geben würde, bei denen natürlich das Risiko bestand, aussortiert zu werden. Als Assistenztrainer war ich dagegen sicher am Start.“ Das Trainerteam stand also und staunte nicht schlecht über die Masse von Kandidaten, die sich beim ersten Sichtungstreffen in der Halle der Idarbachtalschule in Tiefenstein vorstellte. Cullmann: „Ich kam nicht darum herum, auszusortieren.“ Um das einigermaßen gerecht tun zu können, beschloss er: „Wir machen einen Fitnessparcours, ein Zirkeltraining mit zehn bis 15 Stationen.“
Ehrgeiz und blutende Hände
Heinz Hofmann ist noch heute beeindruckt von der Akribie, mit der Cullmann diese Übungen ausgesucht hatte. „Bernd war ein prima Trainer. Wir haben lange gemeinsam getüftelt, wen wir mitnehmen. Geschicklichkeit, Beweglichkeit, Kraft, Ausdauer, Reaktionsvermögen – die Spiele erforderten ja ganz unterschiedliche Fähigkeiten“, blickt Hofmann zurück. Und so wurden die Kandidaten auf Herz und Nieren getestet. „Man musste den Parcours in einer bestimmten Zeit durchlaufen“, erinnert sich Cullmann – und auch daran, mit welchem Eifer, welcher Begeisterung und welchem Ehrgeiz die Sportler ans Werk gingen.
Cullmann erinnert sich an einen Kandidaten, für den die letzte Zirkelübung darin bestand, an einem Seil in die Höhe zu klettern: „Er hat alles an Kraft aufgewandt und sich dort hoch gehangelt. Oben angekommen, hat er vor Erschöpfung den Griff kurz gelockert und ist an den Seilen nach unten gerutscht. Seine Hände waren voller Blut, aber er hat mich regelrecht angefleht: „Sie müssen mich mitnehmen, Sie müssen mich mitnehmen.““ Bernd Cullmann ist heute noch ergriffen von dem Einsatzwillen, den sein Team gezeigt hatte. Irgendwann stand der Kader weitgehend.
Seiteneinsteiger „Deo“ Dietrich
Wolfgang „Deo“ Dietrich wäre eigentlich nicht dabei gewesen, wenn Bernd Cullmann in seiner Funktion als Trainer des TuS Tiefenstein seine Fußballmannschaft nicht eines Tages durch den „Spiel-ohne-Grenzen-Zirkel gejagt hätte“. „Anscheinend war ich recht schnell“, grinst Dietrich – und „zack“ nominierte ihn Cullmann. „Ich war sozusagen ein Seiteneinsteiger“, lacht Dietrich. Der Klasse-Fußballer war Teil eines exquisiten Teams und würde später mit Bernd Nees Lothar Hermann, Bernd Fuhr, Hilpert Schuler, Werner Leyser und Horst Zimmermann das Spiel „Die sieben Schwaben“ gewinnen. Außerdem gehörten Helmut Horne, Manfred Nickels, Hans-Werner van der Woude, Karl-Heinz Platt, Gisela Krämer, Gerdi Schäfer, Wolfgang Maul, Jürgen Heidrich, Werner Hermann, Brunhilde Weisner sowie Wolfgang Hub und Christa Frühauf zur Idar-Obersteiner Mannschaft, die pünktlich um 15.30 Uhr im Staden gegen Rockenhausen antrat.
„IO-Ho-Ho-Ho“
Apropos Staden. Das TuS-Gelände in Tiefenstein war in ein schmuckes Stadion umgewandelt worden, mit 14-reihigen Stahlrohrtribünen. Gut 6000 Zuschauer fanden Platz und machten ordentlich Stimmung. Laut eines Artikels im „TuS-Heft“ von damals wurden die heimischen Schlachtenbummler auf den Schlachtruf „IO-Ho-Ho-Ho“ gedrillt. „Bei der Generalprobe waren Schüler da. Da war was los“, erinnert sich Christa Loderer. Unter ihrem Mädchennamen Frühauf startete die Klasse-Handballerin (damals spielte sie für den Idarer TV, später für Bayern München), die heute in der Nähe von Dachau lebt bei zwei Spielen. Unter anderem mimte sie „Frau Holle“.
Christa Loderer denkt gerne an „Spiel ohne Grenzen“ zurück. „Es hat richtig Spaß gemacht, und wegen der vielen Zuschauer haben einen die Leute danach auch in der Stadt erkannt“, erzählt sie und lacht: „Ich war noch lange Frau Holle.“ Als solche musste sie ein riesiges Federkissen beziehen. „Das war vier auf fünf Meter groß, aber wir waren gehandicapt durch unser Kostüm – ein gewaltiger Reifrock und ein Oberteil aus Styropor“, schildert sie und freut sich noch heute: „Ich habe gewonnen.“
Vor den Sieg hatten die Trainer aber anstrengende Übungseinheiten gesetzt. „Bernd Cullmann und Heinz Hofmann waren richtig kreativ. Ich erinnere mich besonders an das Zirkeltraining“, sprudelt es aus Christa Loderer. „Wir mussten ja lange ins Blaue trainieren, also haben wir in erster Linie auf die Fitness geachtet“, erzählt Bernd Cullmann. Wolfgang Hub kann das nur bestätigen. Der Kirschweilerer, damals herausragender Handballer bei der HG Idar-Oberstein, berichtet: „Die Trainer haben uns im Staden richtig kaputt gemacht.“
Schmierseife und Teppichklopfer
Wolfgang Hub trat als „tapferes Schneiderlein“ an – ein anstrengendes und seifiges Spiel. Er erklärt: „Richtung Stadenbad war eine meterhohe schiefe Ebene aufgebaut, deren Anlauffläche aus Holz war und die in den beiden unteren Dritteln mit Schmierseife präpariert gewesen ist. Dort mussten wir rauf und mit einem Teppichklopfer Luftballons, die mit Wasser gefüllt waren und die die Fliegen aus dem bekannten Märchen darstellen sollten, zerschlagen.“ Auch Wolfgang Hub blieb siegreich und sagt heute: „Es war eine ganz tolle Erfahrung.“
Auf nach Riccione
Das harte, von Bernd Cullmann erdachte Training zahlte sich aus. „Wir haben haushoch gewonnen“, erzählt der Olympiasieger. „Wir waren einfach gut drauf“, bestätigt Christa Loderer. Klar, dass ordentlich gefeiert wurde. „Unter anderem in der alten Stadenhalle mit dem fantastischen Camillo Felgen“, erinnert sich Wolfgang Hub.
Team Idar-Oberstein hatte die nächste Runde erreicht und kämpfte im italienischen Riccione um den Einzug in die Finalsendung in Holland. Allerdings hatte die Mannschaft ein anderes Gesicht. „Die Spiele passten nicht zu unserem Team. Wir mussten uns verstärken, das war erlaubt“, erzählt Bernd Cullmann. Und so überzeugte eine Delegation aus Idar-Oberstein um Oberbürgermeister Wilfried Wittmann unter anderem eine Rollschuhgruppe aus Landau und eine Kunstkraftgruppe aus dem saarländischen Uchtelfangen, die auf das Stellen von Personenpyramiden spezialisiert war, davon, für die Schmuckstadt in Italien an den Start zu gehen. „OB Wittmann hat sich schwer ins Zeug gelegt. Mit Kaffee und Cognac“, lacht Cullmann.
Ein bisschen enttäuscht, nicht auch in Riccione an den Start gehen zu dürfen, waren einige Teilnehmer der Spiele im Staden schon. „Wir hatten schließlich ermöglicht, dass es nach Riccione ging“, sagt Wolfgang Hub. Doch die Stadt hatte ihre Helden nicht vergessen. Diejenigen der Stadenmannschaft, die nicht wieder nominiert werden konnten, wurden eingeladen, das neue Idar-Obersteiner Team zu unterstützen. „Wir sind mit dem Sonderzug nach Riccione. Da ist die Post abgegangen“, erzählt Wolfgang Hub, und Christa Loderer bestätigt: „Wir hatten eine wunderbare Zeit. Die Profis, die uns vertreten haben, haben nicht so glücklich ausgesehen.“
Als die Rollschuhkette riss
Am 6. Juni 1971 patzte in Riccione ausgerechnet der Joker. Jede Mannschaft konnte nämlich einen Joker setzen. In diesem Spiel wurden dann die Punkte verdoppelt. Bernd Cullmann und sein Trainerteam hatten auch die neue IO- Mannschaft hervorragend vorbereitet und es sogar geschafft, die ziemlich geheim gehaltenen Spiele im Vorfeld auszukundschaften. „Unser Spion war Beppo Milisenda, der Wirt vom Stadtrug in Idar“, verrät Bernd Cullmann.
Idar-Obersteins Joker sollten die Landauer Rollschuhläufer sein. „Ringelreihen“ wurde zum Schicksalsspiel. Eine Rollschuhkette musste gebildet und ein Würfel dabei an seinem Platz gehalten werden. Bernd Cullmann erinnert sich an die fatalen Sekunden: „Die favorisierten Italiener waren überraschend schwach, und als wir dran waren, da hat es richtig geflutscht.“ Es flutschte zu gut. „Es war zu viel Euphorie im Spiel. Unter der lautstarken Anfeuerung unserer Fans sind sie immer schneller geworden“, berichtet Cullmann. Der Olympiasieger sah das Unheil kommen. Er schrie sich die Lunge aus dem Leib: „Macht langsam, nehmt euch Zeit, habe ich gerufen. Sie haben es nicht mehr gehört.“ Die Kette riss, Idar-Oberstein verlor das Spiel und verpasste knapp den Sprung in die letzte Runde.
Doch bis heute hält sich die Trauer in Grenzen. An Spiel ohne Grenzen denken alle gerne zurück – an das Auswahlverfahren in Tiefenstein, an das Training mit Bernd Cullmann, Horst Eckel und Heinz Hofmann und natürlich an den sensationellen Heimauftritt am 24. April 1971 im Staden vor Millionen Menschen an den Fernsehgeräten – vor genau 50 Jahren.