Liebe Heike Schwarm, gibt es eigentlich Gemeinsamkeiten zwischen den Turn-Trainerinnen Marianne Reimann und Heike Schwarm?
Ich bin keine Trainerin, die Kinder aussortiert. Und Marianne hat das auch nicht getan. Marianne hat nie zu einem Kind gesagt, „Du hast nicht genug Talent zum Turnen.“ Sie hat vor über 40 Jahren schon Differenzierung im besten Sinne betrieben, hat Kinder dort abgeholt, wo sie stehen und versucht, das Potenzial herauszukitzeln. Das versuche ich auch.
Was ist Ihnen ansonsten als Trainerin wichtig?
Zusammen mit Simone Arenz, mit der ich mich ja in Niederwörresbach um eine Gruppe kümmere, versuche ich, Freude zu vermitteln. Freude an der vielfältigen turnerischen Bewegung. Es ist schön, den eigenen Körper zu beherrschen. Dabei möchten wir, wenn es geht, auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen, die wir trainieren, eingehen.
Wie sieht das aus?
Wir versuchen zum Beispiel, nicht nur strikt die Elemente der Wettkämpfe einzuüben, sondern probieren auch mal etwas aus. Da werden auch Tsukaharas und Doppelsalti gesprungen. Man muss Kindern auch mal was zutrauen. Bei Hilfestellungen bin ich mir sicher, und so kann ich den Turnerinnen auch ein sicheres Gefühl vermitteln.
Im Moment sind die Hallen wieder geschlossen, Turntraining nicht erlaubt. Befürchten Sie negative Auswirkungen dieses derzeitigen Lockdowns auf die Turnerinnen und Turner der KTV beziehungsweise Ihre Trainingsgruppe?
Ich hoffe natürlich, dass es so sein wird wie nach dem ersten Lockdown. Den hatten die Kinder so gut verkraftet. Sie waren fit und motiviert. Diesmal habe ich ein paar Bedenken mehr, denn die Kinder können wegen des Wetters nicht nach draußen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie die Disziplin haben, trotzdem etwas für Kondition und Muskelaufbau zu tun. Wir halten zwar Kontakt, aber das gemeinsame Training, der direkte Austausch fehlt – den Turnerinnen und auch mir. Unsere jetzige Trainingsgruppe ist motiviert, auch deshalb sind wir guter Dinge, dass alle Kinder nach dem Lockdown wieder ins Turnzentrum kommen werden. Unwägbarkeiten drohen aber trotzdem. Vielleicht kommt Angst vor einzelnen Elementen dazu, die vorher nicht da war, wenn man so lange nicht mehr an einem Gerät trainiert hat. Angst ist nun einmal im Turnen eine Nummer, die nicht zu unterschätzen ist. Wobei wir ja heute in Niederwörresbach bestens ausgestattet sind, um entgegenzuwirken – zum Beispiel mit der Schnitzelgrube.
Können Sie sich erinnern, wie das bei Ihnen war mit der Angst?
(lacht) Ich hatte als Kind keine. Das hat sich schnell gezeigt. Ich bin mit vier Jahren mit meiner Mutter, die auch meine Trainerin war, in die Halle.
Diese alte Halle in Niederwörresbach war von der Ausstattung her überhaupt nicht zu vergleichen mit modernen Turnhallen. Wie hat es der SV Niederwörresbach geschafft, in den 1980er Jahren unter solchen Voraussetzungen neben Berlin und Hamburg zur Hochburg im Turnen in Deutschland zu werden?
Es war die Person Marianne Reimann. Sie hat die Kinder in die Halle geholt, hat ihren eigenen Ehrgeiz vermittelt. Trotzdem hat sie – wie erwähnt – nicht aussortiert. Sie hat gut gesteuert, wann und wie oft Kinder in die Halle zum Training gekommen sind. Die weniger talentierten sind dann eben nur einmal oder zweimal in der Woche da gewesen. Die anderen waren öfter, fast jeden Tag, da. Sie hat aber auch indirekt Druck ausgeübt. Man hatte ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht zum Training in die Halle kam. Aber in dieser Halle in Niederwörresbach, in der so viele mit unterschiedlich ausgeprägtem Talent geturnt haben, war eine ganz besondere Stimmung, eine gute Atmosphäre. Ich bin da wirklich gerne gewesen.
Von Marianne Reimann war das dann ja auch eine beeindruckende Trainerleistung, alleine weil sie Kinder mit den unterschiedlichsten Leistungsständen gecoacht hat...
Definitiv. Die Trainerleistung war unglaublich. Sie hat eine enorme Dynamik entwickelt. Es gab aber auch weitere Trainerinnen wie meine Mutter, die ihr geholfen haben und Turnerinnen betreut haben. Bei Marianne Reimann war auch zu lernen, dass das größte Talent nichts nutzt, wenn es nicht ab und zu mal die Zähne zusammenbeißt. Ein gewisser Druck spielte bei ihrer Tätigkeit aber immer mit.
Haben Sie auch Druck gespürt?
Marianne ist meine Tante, ich war für sie etwas Besonderes. Ich habe den Druck nicht so sehr empfunden.
Wenn Sie erzählen, dass damals die Halle in Niederwörresbach voll war, dann muss man feststellen, dass Turnen früher deutlich populärer war als heute. Warum ist das so?
(lacht) Wir sind mittlerweile eine Randsportart. Aber man muss sicher sehen, dass es früher weniger Sportarten im Angebot gab. Ich bin hin, weil Turnen angeboten wurde. Mittlerweile gibt es nun einmal viele Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen.
Aber nicht zu Unrecht wird ja immer wieder empfohlen, dass Kinder in einem Turnverein beginnen sollten, ehe sie sich für andere Sportarten entscheiden.
Das wirklich Tolle am Turnen ist, dass es so vielseitig ist, Muskulatur aufbaut, Beweglichkeit, Schnelligkeit und Koordination schult. Turnen schafft einfach eine gute Basis, auch für Handball, Leichtathletik, Hockey oder Volleyball.
Aber warum gehen dann so wenige Kinder zum Turnen?
Turnen ist nun einmal auch sehr arbeitsintensiv und anstrengend. Es muss unglaublich viel getan werden und es dauert lange, bis sich ein bisschen Erfolg einstellt. Wir machen es uns beim Turnen auch so unfassbar schwer.
Wie meinen Sie das?
Ich nehme mal das Beispiel Rope-Skipping. Einige Kinder, die mal geturnt haben, machen das. Ich finde Rope-Skipping wirklich klasse, und es ist attraktiv, weil sich viel schneller größere Erfolge einstellen. Zu den Deutschen Meisterschaften, ja sogar zu Europa- und Weltmeisterschaften schaffen es vergleichsweise viele Kinder und Jugendliche. Und das ist natürlich toll, weil sie etwas Besonderes erleben. Bei uns Turnern ist es so, dass für uns, wenn wir Pech haben, in Bad Kreuznach oder Bad Sobernheim bereits bei den Gaumeisterschaften Schluss ist.
Sie selbst haben im Turnen nahezu alles erreicht, was realistisch betrachtet damals möglich war. Wie hat sich das entwickelt?
Ich hatte, wie gesagt, keine Angst und habe nachgemacht. Also ich habe was gesehen und gedacht, das will ich auch können. Und ich habe mich getraut das umzusetzen.
Haben Sie ein Vorbild gehabt, jemanden dem Sie nacheifern wollten?
Oh ja. Ich habe bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal vor dem Fernseher gesessen und Nadja Comaneci bewundert.
Die Rumänin Nadja Comaneci holte im Alter von 14 Jahren drei Goldmedaillen und war die erste Turnerin, die mit einer damals als unerreichbar geltenden 10,0 bewertet worden ist.
Sie ist mein großes Vorbild und ich bewundere sie heute noch. Ihre Abgeklärtheit, ihre Souveränität waren für mich unglaublich. Manchmal suche ich für das Training in Niederwörresbach Bodenturnmusiken, und dann schaue ich mir Videos von ihr an und denke, so wie sie es macht, das ist Turnen in Perfektion. Ich habe sie sogar irgendwann einmal kennengelernt. Sie hat Berno Wischmann, den Opa meiner damals besten Freundin, in der Mainzer Universität besucht. Mit ihr zu trainieren – das war ein Erlebnis.
Sie selbst sind 1981 noch als Schülerin Deutsche Meisterin geworden, durften aber trotzdem nicht mit zur Weltmeisterschaft nach Moskau. Wie kam das?
Ich war zu jung. Es gibt eine Regel in Deutschland, dass man mindestens 15 Jahre alt sein muss, um in die Nationalmannschaft berufen zu werden.
Wie haben Sie diese ersten großen Erfolge erlebt?
Es gibt Phasen, da läuft es extrem gut. Zu der Zeit 1980/81 ist mir alles geglückt. Ich würde fast sagen, dass es meine souveränste Zeit war. Wobei – 1983/84 natürlich auch erfolgreiche Jahre waren.
Das ist untertrieben. Sie haben es in den Olympiakader geschafft...
Den entscheidenden Schub habe ich in der Deutschen Turnschule in Frankfurt bekommen. Da bin ich Anfang 1983 hin. Alles war auf Turnen ausgerichtet, acht Stunden Training am Tag. Die Trainer und Trainerinnen dort haben mir Stabilität gegeben – in jeder Beziehung. Marianne Reimann war ja eine zierliche Person. Das setzt Grenzen bei der Hilfestellung. In Frankfurt waren Trainer, die dich auch mal aufgefangen haben, wenn eine Übung schief gegangen ist. Außerdem haben die Bundestrainer es geschafft, so einen Mannschaftsgeist zu formen – meinen Schlüssel zum Erfolg.
Sie waren 1984 vor Olympia in Topform – und hätten es trotzdem beinahe nicht zu den Spielen geschafft. Wie kam das?
Anfang des Jahres hatte ich massive Rückenprobleme, die mich im Grunde bis heute begleiten. Die Ärzte in Frankfurt wollten dann keine Verantwortung mehr für die körperlichen Belastungen übernehmen. Glücklicherweise hat sich Professor Klümper, der in Freiburg gelehrt hat, um meinen Rücken gekümmert. Er polarisierte als Arzt sehr und wie sich herausgestellt hat, waren viele seiner Methoden tatsächlich fragwürdig. Mir hat er aber geholfen, er hat gesagt, dass er die Verantwortung für meine Gesundheit für ein halbes Jahr bis zu den Olympischen Spielen übernimmt. Danach habe ich auch sofort aufgehört.
Sie sind also in ihren Karrierehöhepunkt mit dem Wissen gegangen, danach aufhören zu müssen. War das nicht furchtbar für sie?
Ich habe die Gabe, dass ich mich mit Dingen abfinden kann. Es war mir wichtig, die Olympischen Spiele noch mitnehmen zu können.
Und wie waren die Olympischen Spiele in Los Angeles dann?
Das war unglaublich, diese ganzen Eindrücke, das Leben im Olympischen Dorf. Wir Turnerinnen sind ja 1984 sehr jung gewesen, Kinder noch. Die anderen Sportler haben sich um uns gekümmert. Ulrike Meyfahrth, Albatros Michael Groß, Jürgen Hingsen. Man gehörte dazu. Wir haben mit den Ringern oder den Handballern etwas unternommen. Die anderen Sportler haben auf uns aufgepasst. Für mich war dieses deutsche Olympiateam 1984 eine Mannschaft im besten Sinn. Die Eröffnungsfeier ist noch sehr präsent in meinem Kopf. Alle mit der gleichen Kleidung, der gleichen Ausstattung, das war schon toll. Die Möglichkeiten im Olympischen Dorf waren unfassbar.
Können Sie das Leben im Olympischen Dorf kurz auf eine Formel bringen?
(lacht) Sport, Essen, Trinken und Party. Wobei Party erst nach unseren Wettkämpfen angesagt war.
Haben Sie auch die anderen Wettkämpfe sehen können?
Klar, wir Turnerinnen hatten unsere Wettkämpfe in der ersten Woche, waren anschließend viel in den Stadien unterwegs und haben auch die anderen großen Sportler und Sportlerinnen kennen gelernt. Carl Lewis zum Beispiel. Es war einfach unglaublich.
Und wie waren für Sie die eigenen Wettkämpfe?
Das war eine schwierige Atmosphäre. Die Amerikaner hatten eine merkwürdige Art mit Konkurrenz umzugehen. Übrigens in allen Sportarten. Die Stimmung war „phänomenal“, aber nur wenn die Amerikanerinnen turnten.
Und waren Sie zufrieden mit Ihrer eigenen persönlichen Leistung?
Ehrlich gesagt nicht ganz. Von acht Geräten habe ich sieben wirklich gut geturnt, aber am Stufenbarren bin ich gestürzt. Der vierte Platz mit der Mannschaft war aber letztlich ein Top-Ergebnis, für uns praktisch optimal, mehr ging nicht. Und darüber habe ich mich gefreut, die Mannschaft war mir wichtig. Ich war schon immer so ein Mannschaftsmensch.
Nach Olympia mussten Sie, wie erwähnt aufhören. Wirklich ohne Probleme?
Nein, natürlich nicht. Es kamen schulische Schwierigkeiten. In Frankfurt, in der Deutschen Turnschule, stand Turnen im Vordergrund, ich hatte fast keinen Unterricht. Dann kommst du nach den Olympischen Spielen zurück an die „normale“ Schule, in meinem Fall das Heinzenwies-Gymnasium, und es spielt keine Rolle mehr, dass du gerade noch bei olympischen Spielen warst und du auf der anderen Seite kein so großes Verständnis dafür hast, warum jetzt gerade die dritte binomische Formel so wichtig sein soll. Das war sehr hart, und ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass sie großes Verständnis damals gezeigt hat. Nicht leichter gemacht hat es, dass Marianne Reimann nicht so richtig verstehen konnte, dass ich aufgehört hatte.
Sie sind dann aber doch irgendwie beim Turnen geblieben. Wie kam es dazu?
In Berlin beim Studium haben meine Freundin Brigitta Lehmann und ich irgendwann beschlossen, in einen Turnverein zu gehen. Dort haben wir dann eine Turngruppe aufgebaut. Das war eine sehr schöne Zeit. Da habe ich zum Einen gemerkt, dass es mir Freude macht, mit Kindern zu arbeiten und zum Anderen noch einmal gesehen, dass Turnen meine Leidenschaft ist. Ich liebe das noch heute.
Wissen eigentlich die Kinder ihrer Trainingsgruppe um Ihre Erfolge in dieser Sportart?
Manche kommen und erzählen, dass sie mich auf Youtube gesehen haben. Ja, den Turnerinnen ist schon klar, dass ich mal ganz gut geturnt habe.
Wir haben über Ihre Rückenprobleme gesprochen. Können Sie trotzdem heute noch Übungen vorturnen?
Ich bin sicher fitter als andere mit 53 Jahren, aber das Problem ist, dass man es zwar im Kopf hat, wie es geht – im Kopf kann ich immer noch alles, im Kopf sitzt es, ich könnte es auch sofort umsetzen, wenn mein Körper nur mitspielen würde. Wenn ich einem Kind erklären soll, wie es beim Tsukahara abdrückt, dann sehe ich mich und weiß genau, welche Tricks ich angewendet habe. Um auf die Frage zurückzukommen.
Die Freude an der Sportart ist auch so geblieben...
Auf jeden Fall. Turnen ist schon meine Leidenschaft. Wenn ich mit meinem Opa früher durchs Dorf bin, dann habe ich Räder geschlagen. Diese Freude möchte ich aufrecht erhalten, auch bei den Kindern, die ich trainiere.
Da sind wir wieder bei der Frage, wie Sie als Trainerin agieren...
Ich habe auf einem bemerkenswerten Lehrgang bei Bruno Hambüchen, dem Onkel von Fabian Hambüchen, gelernt, dass es immer um das Kind gehen muss, nie um den Lehrer oder den Trainer. Ich möchte den Kindern nichts überstülpen. Sie sollen selber kommen. Druck ausüben ist nicht meins.
Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund ihre aktuellen Trainingsgruppe bei der KTV?
Sie ist großartig. Sie bereitet mir Freude. Das sind Mädchen, die unbedingt turnen wollen, von selbst, die große Freude an dieser Sportart haben. Das ist schön zu sehen. Das macht Spaß.
Zum Abschluss. Sie sind auch zu Ihrer aktiven Zeit immer beim SV Niederwörresbach geblieben. Welche Rolle spielt der Verein für sie?
Ich fühle mich dort wohl und hatte auch vor der KTV beim SVN eine Trainingsgruppe. (lacht) Es ist eigentlich so mein Verein.
Das Gespräch führte Sascha Nicolay
Dennis Lukas folgt
In unserer Serie „Interviewstaffel“, bestimmt der Interviewte den nächsten Gesprächspartner. Heike Schwarm gibt den Staffelstab an Dennis Lukas weiter. Das Interview mit dem Kugelstoßer der LG Idar-Oberstein folgt in einer der nächsten Ausgaben. Vor Heike Schwarm sprach NZ-Sportredakteur Sascha Nicolay mit Dominic Schübelin (VfR Baumholder), Kevin Hohrein (TuS Hoppstädten) und Daniel Sommer (SC Birkenfeld), Felix Bank (SCB) und Stefan Bank (SV Niederwörresbach).