Stromberg
Günter Wallraff: Die Narben trage ich am Körper

Günther Wallraff

Stromberg. Die Maschinen stehen seit Ende September still. In Stromberg werden keine Ciabatta-Brötchen mehr für Lidl gebacken. Doch die verdeckten Recherchen des Journalisten Günter Wallraff haben trotzdem noch ein Nachspiel. Mehr als zwei Jahre nach seinem Undercover-Einsatz in der Stromberger Backfabrik "Gebrüder Weinzheimer" beginnt morgen der Prozess gegen den Inhaber vor dem Bad Kreuznacher Amtsgericht.

Stromberg. Die Maschinen stehen seit Ende September still. In Stromberg werden keine Ciabatta-Brötchen mehr für Lidl gebacken. Doch die verdeckten Recherchen des Journalisten Günter Wallraff haben trotzdem noch ein Nachspiel. Mehr als zwei Jahre nach seinem Undercover-Einsatz in der Stromberger Backfabrik „Gebrüder Weinzheimer“ beginnt morgen der Prozess gegen den Inhaber vor dem Bad Kreuznacher Amtsgericht.

Vier Wochen lang war Günter Wallraff als Brötchenbäcker Klaus K. in der Stromberger Backfabrik Weinzheimer beschäftigt. Was Wallraff dort im Jahr 2008 aufdeckte, sorgte für einen Paukenschlag. Im Zeit-Magazin berichtete er über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und mangelnde Hygiene. Das Gericht erließ einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Inhaber der Brotfabrik. Da er Widerspruch einlegte, kommt es nun zur mündlichen Verhandlung, in deren Verlauf auch Wallraff als Zeuge geladen ist. Der Oeffentliche Anzeiger hat mit dem Journalisten und Schriftsteller darüber gesprochen.

Herr Wallraff, gibt es bei Ihnen eigentlich noch Brötchen zum Frühstück?

Oh ja. Ich esse gerne Vollkornbrötchen! Bei mir um die Ecke gibt es eine Biobäckerei, und Sie werden lachen: Ich besitze noch ein Paket dieser Lidl-Aufbackbrötchen als Andenken an meinen Undercover-Einsatz in der Stromberger Backfabrik Weinzheimer. Das ist schon ein Phänomen. Denn zwischendurch waren unsere Brötchen ja schimmelig und Lidl ließ sie zurückschicken. Diese hier sind jetzt hart wie Stein.

Achten Sie selbst denn immer ganz genau darauf, wo Ihre Lebensmittel herkommen?

Wenn es die Zeit zulässt. Ich muss gestehen, dass ich manchmal so in Eile bin, dass ich gegen meine Überzeugung in einem Einkaufsmarkt direkt vis-à-vis einkaufe, der auch zur Lidl-Gruppe gehört. Zu zwei Dritteln kaufe ich meine Lebensmittel aber im Bioladen ein. Und immer, wenn ich meinen Prinzipien untreu werde, habe ich tatsächlich auch ein schlechtes Gewissen.

Sehen Sie Ihr eigenes Frühstücksbrötchen denn heute mit anderen Augen als vor Ihrem Einsatz in der Backfabrik?

Das würde ich schon sagen. Ich würde auch niemals bei einem Discounter Brötchen kaufen. Aufbackbrötchen sowieso nicht, denn die schmecken mir nicht. Das hat mit meinem eigenen Genussbedürfnis zu tun, nicht mit Geld. Denn wenn Sie beim Bäcker ein frisches Brot kaufen und das portionieren, ist das nicht teurer. Nach meiner Veröffentlichung über die Zustände in der Stromberger Großbäckerei bekam ich übrigens von der Bäckereiinnung Nordrhein-Westfalen das Angebot, mir eine x-beliebige Bäckerei auszusuchen, um auch mal andere Arbeits- und Produktionsbedingungen kennenzulernen. Ich habe in einer Biobäckerei in Lemgo gearbeitet. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Es duftete dort, schmeckte gut, die Arbeitsbedingungen waren gut. Natürlich lässt sich diese Berichterstattung aber nicht mit einer verdeckten Recherche vergleichen.

Das heißt aber, Sie dokumentieren auch mal bewusst die andere, positive Seite?

Ja, und ich bin auch der Meinung, man sollte Positiv-Listen erstellen. Wir sind in Deutschland inzwischen ziemlich weit entwickelt und sehr kritisch, was hygienische und ökologische Standards angeht. Das ist gut so. Unterentwickelt sind hingegen die Arbeitsbedingungen, unter denen die Produkte hergestellt werden. Auch die örtlichen Behörden sind oft unterbesetzt, überfordert oder einfach zu nahe am Geschehen, um etwas dagegen zu unternehmen.

Müssen sich Menschen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, im Umkehrschluss heute alles gefallen lassen?

Das ist immer häufiger zu beobachten. Ich bekomme jeden Tag Zuschriften von Menschen, denen Ähnliches oder Schlimmeres passiert ist, und die Angst davor haben, das öffentlich zu machen, da sie um ihren Arbeitsplatz fürchten. Das sind mittlerweile Zustände, mit deren Enthüllung ich als Einzelner überfordert bin. Das ist einer der Gründe, warum ich aus meinen Ersparnissen ein Stipendium geschaffen habe, mit dem jetzt die ersten jungen Journalisten verdeckt in Betriebe gehen.

Was versprechen Sie sich langfristig davon?

Das Wallraff-Modell soll Schule machen, denn ich bekomme jede Woche mehr Zuschriften. Es melden sich auch Mitarbeiter aus anderen Großbäckereien, die andere Discounter beliefern, und mir ganz ähnliche Zustände mitteilen. Das Problem an sich lässt sich nicht durch die Behebung eines Einzelfalls bewältigen.

Was hat Sie denn während Ihrer Zeit in der Großbäckerei Weinzheimer am meisten schockiert?

Oh, wo soll ich da anfangen? Es war so grenzwertig! Ich bin ein hochtrainierter Sportler, laufe Marathon, mache Krafttraining. Als ich mit meinem Rennrad vor der Tür der Backfabrik stand und um Arbeit bat, war meine Sportlichkeit nicht gespielt. Ich werde den Ironman wohl nicht mehr bewältigen, aber den normalen Triathlon schaffe ich noch. Aber nach einem Monat bei Weinzheimer war ich an meiner Grenze angelangt. Viel länger hätte ich das nicht ausgehalten.

Was genau hat Sie so an Ihre Grenzen gebracht?

Es waren mehrere Komponenten: Es gab keinen Arbeitsrhythmus, fast stündlich blockierte die marode Anlage, und die heißen Bleche flogen uns um die Ohren. Wir wurden angebrüllt, aber nicht aus Schikane. Die Schichtführerin, mit der ich heute befreundet bin, war überfordert, musste drei Arbeitsplätze gleichzeitig erfüllen und hatte selbst Angst. Denn wenn die Maschine nicht wieder in Gang kam, war sie die Schuldige. Wir mussten außerdem in die laufenden Eisenbänder greifen. Das war lebensgefährlich und konnte schwerste Verletzungen hervorrufen. Der Geschäftsführer wollte mir an einem Tag klarmachen, dass ich auch unter dem laufenden Band sauber machen sollte. Ich wies ihn darauf hin, dass das gefährlich ist. Demonstrativ wollte er mir zeigen, wie einfach das geht, kroch unter das Band, und in diesem Moment griff die Kette in seinen Kittel. Ich konnte ihn gerade noch losreißen, er wäre sonst vielleicht schwer verletzt worden. Den ölverschmierten Stofffetzen aus seinem Kittel habe ich übrigens aufbewahrt. Als Erinnerung.

Morgen beginnt der Prozess gegen den Inhaber der Stromberger Großbäckerei wegen fahrlässiger Körperverletzung. Anfang November sagen Sie als Zeuge aus. Was erwarten Sie von dem Verfahren?

Der Prozess hätte viel früher stattfinden müssen. Eigentlich unmittelbar nachdem der Fall in die Öffentlichkeit kam und mein Buch erschien, und spätestens als der Film in der ARD gesendet wurde. Ich hatte dem Inhaber zunächst angeboten, vertraulich mit ihm zu reden. Ich hatte die Hoffnung, dass sich grundlegend etwas ändert. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich unentgeltlich als eine Art Mediator auftrete und etwas Positives und Langfristiges erreiche. Einmal habe ich zum Beispiel eine Privatklinik gerettet, in der Direktor und Chefarzt heillos zerstritten waren.

Wieso konnten Sie im Fall Weinzheimer nicht vermitteln?

Der Inhaber war halsstarrig und unbelehrbar und verweigerte jegliches Gespräch. Stattdessen strengte er einen Prozess wegen Hausfriedensbruch gegen mich an. Darüber habe ich nur gelacht. Was heißt denn schon Hausfriedensbruch? Wie kann ich denn einen Frieden brechen in einem Laden, in dem ein dauernder Kriegszustand herrscht? Die Anzeige hat er aber leider zurückgezogen. Jetzt ist die Großbäckerei geschlossen, an den Zuständen ändert sich nichts mehr. Und trotzdem, der Prozess hat eine Symbolkraft.

Was ist mit Blick auf den Prozess Ihre größte Befürchtung?

Verhängnisvoll wäre, wenn der Inhaber sich durch gute Anwälte aus der Affäre zöge, so ähnlich wie es bei den Hygienevorwürfen gelaufen ist. Denn im Nachhinein hieß es nämlich, dass sich nichts feststellen lässt. Natürlich ließ sich nichts feststellen! Denn als mein Artikel erschienen war, wurde der Laden tagelang auf Vordermann gebracht. Als dann die Gewerbeaufsicht kam, ja da war dann plötzlich nichts mehr zu beanstanden. Was die Körperverletzung betrifft, da gibt's genug Zeugen. Die bleibenden Narben, die trage nicht nur ich am Körper, sondern auch meine Kollegen. Hoffentlich lässt sich das Gericht zur Beweiserhebung diese Brandspuren auch zeigen.

Sie haben dort recherchiert, wo Arbeit wehtut. Was wäre Ihrer Meinung nach eine gerechte Strafe für so einen Unternehmer?

Ich habe damals schon einen Arbeitskollegen zitiert, der Herzprobleme hatte und gezwungen wurde, Arbeiten zu verrichten, nach denen er einen erneuten Zusammenbruch erlitt. Der außerdem nach 30 Jahren aus dem Unternehmen rausgemobbt wurde und jetzt in einer anderen Bäckerei unter anständigen Bedingungen arbeitet. Dieser ehemalige Kollege hat gesagt, und dem möchte ich mich anschließen, so jemand müsste mal wenigstens für acht Wochen unter den Bedingungen arbeiten, die er zu verantworten hat. Außerdem sollte er denjenigen, denen er physischen und psychischen Schaden zugefügt hat, eine Wiedergutmachung zahlen.

Am Ende trifft es die Arbeiter am härtesten, die ihren Job verloren haben. 23 Mitarbeiter stehen nun auf der Straße, was können Sie noch für diese Menschen tun?

Es sind weit mehr als 23 Menschen, wenn man die Leiharbeiter mitzählt. Am Ende waren es sogar fast mehr Leiharbeiter als Festangestellte. Mit einigen habe ich heute noch Kontakt. Ich stelle allen, die noch Ansprüche gegen den Inhaber haben, kostenlos den besten Anwalt. Die 5000 Euro, die ich mit dem Gerty-Spies-Preis 2010 der rheinland-pfälzischen Landeszentrale für politische Bildung Ende September erhalten habe, habe ich bereits an Ex-Kollegen weitergegeben. In der Livesendung anlässlich der Preisverleihung kam ein Arbeiter in einem Beitrag zu Wort, der gerade aus dem Betrieb kam. Ich verstelle mich nicht und habe spontan gesagt: Ach ja, das ist mein Kollege und Freund Peter Larig. Am nächsten Morgen wurde dieser fast handgreiflich vom Geschäftsführer empfangen und die Chefsekretärin blitzte ihn an: „Ab sofort: Haus- und Hofverbot!“ Und das alles, weil ich ihn als Kollegen und Freund bezeichnet habe.

Wie hat ihr Freund und Kollege darauf reagiert?

Zu mir sagte er nur: Jetzt habe ich eine Firma verloren, aber einen dauerhaften Freund dazugewonnen. Und das ist gut so! Fast alle, die jetzt dort raus sind, empfinden das als Befreiung. Demnächst läuft auch noch ein Arbeitsgerichtsprozess einer ehemaligen Betriebsrätin gegen Weinzheimer. Sie wurde fristlos gekündigt, weil sie in einem Interview gesagt hatte, dass nach einigen positiven Veränderungen die Pausenregelung immer noch im Argen liege. Das wurde ihr als Geheimnisverrat vorgeworfen.

Wie intensiv haben Sie sich damals auf ihre Rolle als Brötchenbäcker Klaus K. vorbereitet?

Es sind immer glückliche Umstände, dass mir eine Rolle überhaupt gelingt. Zwei Menschen haben mich unabhängig voneinander auf die Zustände in der Großbäckerei im Hunsrück gestoßen. Ich war zu der Zeit eigentlich dabei, eine andere größere Recherche vorzubereiten, die ich dafür zurückgestellt habe. Aber ich hatte keine Adresse in der Nähe, und das war ein großes Problem. Wenn ich in einer Pension oder einem Hotel gewohnt hätte, wäre das garantiert aufgeflogen, wenn Sie einchecken und das Hotel mit einem anderem Aussehen verlassen. Das geht überhaupt nicht. Aber dann kam im richtigen Moment mein alter Freund Rüdiger Heins aus Bingen auf mich zu. Wie der Zufall so wollte, war gerade ein Mitbewohner ausgezogen, und er hatte ein Zimmer frei. Das war ein Glücksfall. Er hat mich auch in der ersten Zeit zum Betrieb gefahren und manchmal auch wieder abgeholt. Ohne ihn wäre das gar nicht gelungen.

Waren Sie während Ihrer Zeit in der Backfabrik in keinem Moment kurz davor aufzufliegen?

Doch, ich bin sogar einmal aufgeflogen. Aber zum Glück hat der Kollege, der meine Arbeit schätzte, mir nichts gesagt, um mich nicht zu irritieren und zu verunsichern. Erst nachdem ich meine Arbeit beendet hatte, hat er mich beglückwünscht.

Sie sind heute international bekannt. Macht es das generell schwieriger, in verdeckte Rollen zu schlüpfen und unerkannt zu bleiben?

Ja, natürlich. Aber es ist immer wieder möglich, in der grauen Masse unterzutauchen. Ein früherer Verfassungsschutzpräsident hat mir mal ein Kompliment gemacht, indem er meinte, ich hätte so ein schwer zu observierendes Allerweltsgesicht. Durch bestimmte Koordinaten, die wahrscheinlich häufig beim Durchschnittstyp vorkommen. Ich habe zudem eine sehr gute Maskenbildnerin, die aus mir noch einen früh gealterten 49-Jährigen hervorzuzaubern vermag. Das ist gerade noch so drin. Und dennoch: Die Unsicherheit wächst, und meine größte Angst ist, dass ich erkannt werde. Davon träume ich sogar manchmal in der jeweiligen Rolle.

Sie sind 68 Jahre alt. Denken Sie denn ans Aufhören, oder planen Sie schon das nächste Projekt?

Demnächst versuche ich mich im High-Society-Bereich – auch eine Art Parallelgesellschaft. Dort unterzutauchen, ist für mich auch leichter. Denn da erwartet mich mit Sicherheit niemand.

Das Gespräch mit Günter Wallraff führte unsere Redakteurin Denise Bergfeld