„Europa lebt und feiert das Leben. Europa ist zurück“, formulierte Aleksander Ceferin, der Präsident des ausrichtenden Kontinentalverbandes Uefa, hochtrabend die Erwartungen an das Turnier. Dabei darf auch der schneidige Funktionär nicht außer Acht lassen, dass der Profifußball schon fast unverschämtes Glück hat. Gerade rechtzeitig zur EM scheint die hoffentlich letzte Corona-Welle abzuflauen, sodass die geplante Austragung in elf Ländern mit erheblicher Reisetätigkeit der Mannschaften und sogar mit Zuschauern, allerdings mit Maskenpflicht in den Arenen, doch noch möglich wurde. In Budapest etwa soll vor ausverkauftem Haus gespielt werden, 61.000 Fans dicht an dicht erscheinen angesichts eines Restrisikos und schwankender Inzidenzen surreal bis verantwortungslos. Der Spitzenfußball genoss in der Virus-Krise ohnehin das große Privileg, weiter seinem Geschäft nachgehen zu können, als nahezu alle anderen Bereiche der Gesellschaft lahmgelegt waren. Der finanziellen Mittel, eines zweifellos großen organisatorischen Geschicks und auch der Lobby seitens der Politik sei Dank.
Doch genug der Vergangenheitsbewältigung: Ab heute rollt der Ball – ob es einem gefällt oder nicht. Immerhin kann so ein Sportereignis ja auch den Gemeinschaftssinn stärken, ein Wir-Gefühl erzeugen oder zumindest für ein bisschen Ablenkung sorgen. All dies hatte das jüngste große Fußball-Turnier, die aus deutscher Sicht fatale WM 2018, hierzulande nicht hervorrufen können. Statt über sportliche Erfolge wurde rund um das historisch frühe Vorrunden-Aus der DFB-Auswahl mehr über die Arroganz des Trainerstabs und über die Integration türkisch-stämmiger deutscher Nationalspieler diskutiert. Damals hieß der Bundestrainer wie heute Joachim Löw, und der 61-Jährige hat nach etlichen Fehlleistungen wie einem verheerenden 0:6 gegen Spanien seinen vorerst letzten großen Auftritt auf der Fußball-Bühne. „Wir sind der Überzeugung, dass wir ein gutes Turnier spielen können“, erklärte Löw relativ nichtssagend.
Die deutsche Mannschaft muss sich jedenfalls – trotz der viel zitierten Hammergruppe F mit Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal – nicht verstecken. Die gereiften Kai Havertz, Antonio Rüdiger und Timo Werner vom Champions-League-Sieger FC Chelsea sowie die Bayern-Achse mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich, Serge Gnabry und dem zurückgekehrten Vorlagen-Fürst Thomas Müller verheißen eine gewisse Qualität im Kader. Überhaupt kann der deutsche (Nachwuchs-)Fußball doch so schlecht nicht sein, wie er immer gemacht wird, wenn der erst 18-jährige Jamal Musiala im EM-Kader steht und die U 21 des DFB soeben erst den ersten EM-Titel dieses Sommers eingespielt hat. Es wird aber nun erneut darauf ankommen, wie Löw und sein Trainerteam das Turnier moderieren. Bei Ein- und Aufstellung hat der Weltmeistercoach von 2014 zuletzt eher daneben gelegen, als dass er positiv überrascht hätte. Doch ein Turnier ist immer noch ein Turnier – und hier kann laut Fußball-Phrasen-Fibel schließlich alles passieren, zumal schon ein dritter Gruppenplatz bei dieser erneut auf 24 Mannschaften aufgeblähten EM zum Einzug ins Achtelfinale reichen kann. Titelverteidiger Portugal hat den Minimalismus bei der jüngsten Auflage vor fünf Jahren zur Perfektion gebracht und zog mit drei Unentschieden in der Vorrundengruppe in die K.o.-Runde ein.
Für die entscheidende Turnierphase in Amsterdam, Budapest, Kopenhagen, Sankt Petersburg, Baku, Sevilla, Bukarest, Glasgow, München, Rom und letztlich London sind die Etablierten um ihre Stars favorisiert. Neben Frankreich mit Kylian Mbappé (Paris Saint-Germain) und Portugal mit Cristiano Ronaldo sind dies auch die Spanier mit Alvaro Morata (beide (Juventus Turin). Wobei die Iberer das beste Beispiel dafür sind, wie zerbrechlich das Gebilde einer EM unter Corona-Bedingungen ist. Die Infektion von Kapitän Sergio Busquets hat für viel Wirbel und Angst vor weitreichenden Turnierfolgen gesorgt. Die Uefa erlaubt wegen der latenten Gefahr übrigens 26 Spieler in jedem Kader. Notfalls braucht eine Mannschaft nur mindestens 13 einsatzfähige Spieler, darunter einen Torwart, damit eine Partie angepfiffen wird. Hoffen wir, dass nicht das Schlimmste bei diesem Turnier eintritt.
Auch die erstarkten Niederlande wären als Ausnahmeteam zu nennen mit Frenkie de Jong vom FC Barcelona, zudem Belgien mit Kevin De Bruyne (Manchester City) und England mit Harry Kane (Tottenham Hotspur) – oder doch die Italiener, die ausgeglichen und ohne exponierten Einzelkönner daherkommen? Und dann erwarten den geneigten Fußball-Fan bei den 51 Spielen an 31 EM-Tagen auch solche Paarungen, die ihren Zauber noch geschickt verbergen: Ukraine gegen Nordmazedonien oder Schweden gegen die Slowakei.
Wer weiß, vielleicht werden gerade diese unterschätzten Spiele zu den Höhepunkten gezählt, nachdem am 11. Juli in London der Europameister gekürt wurde. Und wer weiß: Vielleicht geht dieses Turnier ja auch als EM der großen Überraschungen in die Geschichte ein. Oder gar als Turnier, das erstmals über ganz Europa verteilt ausgetragen wurde – und bei dem die deutsche Mannschaft ihren vierten EM-Titel nach 1972, 1980 und 1996 gewonnen hat.