Herr Lindner, ist Koalitionsbildung nur was für Profis?
Sie wird dieses Mal herausfordernd. Voraussichtlich werden mehr als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht die Partei desjenigen gewählt haben, der danach Kanzler wird. Es gab ja nie einen Automatismus, dass der Kandidat der stärksten Partei ins Kanzleramt einzieht. Mehr denn je kommt es heute auf die Koalitionsgespräche nach der Wahl an. Das in der Öffentlichkeit beschworene Kopf-an-Kopf-Rennen ist gar nicht so entscheidend.
Sie rechnen also damit, dass jeder auf die FDP zukommen wird, um mit Ihnen eine Regierung zu bilden?
Wir überschätzen uns nicht. Aber unser Ziel ist, dass die FDP so stark wird, dass sie für eine Regierungsbildung gebraucht wird. Es gibt wie vor vier Jahren keine Koalitionsaussage von uns für eine andere Partei, aber für Inhalte: Die FDP wird nur in eine Regierung eintreten, die einen Kurs der Mitte hält, die den Wert der Freiheit stärkt und die auf die großen Herausforderungen mit Marktwirtschaft antwortet. Einen Linksruck in Deutschland wollen wir verhindern.
Vor wenigen Wochen sagten Sie, die Kanzlerfrage sei entschieden, wie sicher sind Sie sich heute?
Die Schwäche der Union ist überraschend. Dennoch haben CDU und CSU solidere Koalitionsoptionen. In Nordrhein-Westfalen regieren wir erfolgreich mit der Union. SPD und Grüne flirten dagegen mit der Linkspartei, die Enteignung im Programm hat. Das lässt der FDP neue Verantwortung zuwachsen. Wer will, dass Deutschland aus der Mitte regiert und ein Linksdrift verhindert wird, sollte uns wählen. Die Union hätte nicht genug Durchsetzungskraft gegenüber den Grünen. Und den Wählerinnen und Wählern der Grünen, denen Klimaschutz wichtig ist, die aber die Ideologie der Linken ablehnen, machen wir ein Angebot. Mehr Freude am Erfinden als am Verbieten ist beim Klimaschutz sowieso wirksamer. Wenn wir möglichst nah an die Grünen herankommen, haben wir Einfluss auf die Regierungsbildung.
Unser Eindruck ist, dass Herr Scholz gerade besonders mit Ihnen flirtet.
Immerhin hat Olaf Scholz sich nun auch zur Schuldenbremse des Grundgesetzes bekannt. Er sagte sogar, dass nun das Wahlprogramm der Grünen wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen würde. Die Grünen wollen ihre Ideen ja mit Schulden finanzieren. Mit der FDP wird es keine Aufweichung der Schuldenbremse geben, denn wir müssen angesichts der Inflationsrisiken zu soliden Finanzen zurück. Aber wir schließen eine höhere Steuerlast ebenfalls aus, denn die gefährdet die wirtschaftliche Erholung nach Corona. Der Staat muss lernen, mit dem Geld zu wirtschaften, das die Menschen ihm zur Verfügung stellen. Im Gegenteil sollten wir nach einem Jahrzehnt der Belastung bei Steuern, Abgaben und Bürokratie in ein Jahrzehnt der Entlastung wechseln. Herr Scholz will dagegen die Belastungsschraube anziehen. Da stehen wir Armin Laschet näher.
Das ist der einzige Unterschied?
Nein. Ich sehe mit Sorge, dass Olaf Scholz über eine eigene Einnahmequelle für die EU redet. Man sollte aber keine Steuern auf europäischer Ebene einführen, weil sich die Menschen an der Wahlurne gegen eine finanzielle Überlastung nicht wehren könnten. In Europa ist die demokratische Legitimation ja indirekt. Herr Scholz sprach sich auch für eine Art europäische Arbeitslosenversicherung aus, durch die die Menschen in Deutschland für falsche Wirtschaftspolitik woanders zahlen sollen. Die FDP will dagegen an der finanziellen Eigenverantwortung der EU-Staaten festhalten.
Wären Sie beim Triell nicht doch gern dabei gewesen – sprich, hätte sich ein Kanzlerkandidat Lindner vielleicht ausgezahlt?
Ziel meiner Arbeit ist es, die FDP als eigenständige, liberale Kraft der Mitte zu etablieren, die berechenbar und seriös agiert. Eine Kanzlerkandidatur hätte keine realistische Perspektive gehabt. Man sieht das bei den Grünen. Uns ist langfristiges Ansehen wichtiger als kurzfristiges Aufsehen.
Sie haben deutlich gemacht, dass für die FDP ein Finanzminister in der neuen Regierung wichtig ist. Welches Ressort ist für die Liberalen das zweitwichtigste?
Wenn wir zur Gestaltung eingeladen werden, wäre das Finanzministerium unser Angebot. Für solide Finanzen könnten wir gute Beiträge leisten, auch für einen stärkeren Aufschwung. Eine der ersten Maßnahmen könnte ein Super-Abschreibungsprogramm sein, mit dem Investitionen der Betriebe in Klimaschutz und Digitalisierung schneller steuerlich prämiert werden. Ansonsten geht es nach dem Grundsatz, das Fell des Bären nicht zu früh zu verteilen.
Braucht es ein Digitalministerium?
Das ist unsere Forderung. In NRW hat es sich bewährt. Wir müssen aber nicht nur bei der Digitalisierung von Staat und Schulen vorankommen. Wir müssen vor allem besser werden bei dem Ausbau der digitalen Infrastruktur. Vorschlag: Der Staatsanteil an der Deutschen Telekom AG ist Milliarden Euro wert. Den öffentlichen Aktienbesitz könnten wir gewissermaßen tauschen in den Ausbau des Glasfasernetzes und die Schließung von Funklöchern. Das wären Investitionen, für die keine höheren Steuern oder Schulden gebraucht würden.
Setzen Sie auf eine paritätische Regierungsmannschaft?
Wir besetzen Posten nach Eignung. Wir könnten dabei aber die Vielfalt der FDP abbilden.
Und ist es nach 73 Jahren mal Zeit für eine Frau als Staatsoberhaupt?
Gegenwärtig gibt es nur einen Kandidaten – den Amtsinhaber. Frank-Walter Steinmeier genießt unsere Sympathie. Aber die Gremien der FDP haben sich damit nicht beschäftigt. Die Bundesversammlung steht erst nach der Bundestagswahl an.
Merkel geht – Ihre Bilanz der Merkel-Jahre in drei Sätzen?
Bei aller Anerkennung für Frau Merkel als Persönlichkeit hinterlässt sie Deutschland teilweise als Sanierungsfall. Staatsfinanzen, Rente, Bildung, Bundeswehr, Digitalisierung, Infrastruktur, Wettbewerbsfähigkeit, Energiepolitik – da sind Baustellen. Vor uns liegen Jahre der Erneuerung. Ich bin optimistisch, dass Deutschland ein starkes Comeback haben wird. Dafür ist aber viel Arbeit nötig. Die Erwartungen an jede neue Regierung müssen daher realistisch sein. Nicht alles Wünschenswerte wird sofort realisierbar sein.
Das Interview führten Gregor Mayntz und Kerstin Münstermann