Bundestagswahl 2021
Corona, „Querdenker“, Flutkatastrophe: Was bedeutet die Bundestagswahl 2021 in diesen ungewissen Zeiten?
Die Corona-Krise hat Deutschland in den Ausnahmezustand versetzt: Frust, Zorn, Angst, Erschöpfung, Verständnislosigkeit – dieser Stimmungscocktail birgt jede Menge Unberechenbarkeit. Als wäre das alles nicht genug, trifft vor allem den Westen des Landes kurz vor der Bundestagswahl die Flutkatastrophe. Wer Deutschland aus diesen Krisen führt, ist derweil ungewiss. Angela Merkel jedenfalls wird es nicht mehr sein.
Bernd von Jutrczenka/dpa

Für den 26. September sind die Staatsbürger Deutschlands zur Wahl ihres neuen Bundesparlaments aufgerufen, womit sie zugleich die Voraussetzungen schaffen zur Bildung ihrer neuen Bundesregierung. So weit, so regulär.

Normal wäre nun, richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt darauf: Wie sind die konkurrierenden Parteien aufgestellt? Wie schlagen sich ihre Vertreter und führenden Köpfe im Wahlkampf? Welche Politikvorschläge oder -versprechen machen sie für die Behandlung aktueller Probleme und anstehender Herausforderungen? Doch ist im Sommer/Herbst 2021 die Lage alles andere als normal. Das wird deutlich, sobald man die Aufmerksamkeit auf die Frage richtet: Wie ist eigentlich das Volk aufgestellt, wie die Stimmung im Land?

Der Aufruf zur Wahl trifft auf eine Bevölkerung, die mit der Corona-Zeit rund eineinhalb Jahre einer Art hinter sich hat, wie sie noch keine zumindest der westdeutschen Nachkriegsgenerationen erlebte: schwere Zeiten im Ausnahmezustand. Und seit den verheerenden Flutereignissen an der Ahr sowie nebenan von Euskirchen bis ins Sauerland sogar in doppeltem Ausnahmezustand. Erschütterung, Entsetzen, Trauer über fast 200 Menschen, die dabei in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen ums Leben kamen, sowie Tausende, die Hab und Gut teilweise oder gänzlich verloren haben, herrschen nicht nur im Katastrophengebiet selbst.

Die Schockwelle nach dem schrecklichen Geschehen ging durch ganz Deutschland. Schließlich war dies keine der tödlichen Katastrophen in fernen Landen oder auf anderen Kontinenten mehr, sondern sie geschah quasi vor der eigenen Haustür, hätte jeden treffen können. Die Menschen am Mittelrhein etwa sind sich bewusst: Wäre dieses Starkregengebiet nur ein paar Kilometer weiter gen Osten und/oder Süden gedriftet, der Schwerpunkt des Schreckens hätte statt an der Ahr und in der Eifel in Westerwald und Taunus oder im Hunsrück und an der Nahe gelegen. Und viele befürchten nun auch hierzulande: Was man dieser Tage oft als Jahrhundert- oder Jahrtausendwetterlage bezeichnet, wird bis zur Wiederkehr in ähnlicher oder anderer katastrophischer Form gewiss kein Jahrhundert auf sich warten lassen. Drei Tage nach den verheerenden Sturzfluten im deutschen Westen, in Belgien und Teilen der Niederlande richteten sich bange Blicke nach Sachsen, Bayern und vor allem Österreich, wo neuerliche Starkregenereignisse teils enorme Schwierigkeiten verursachten. Nur drei Wochen später überschlagen sich die Nachrichten mit Berichten über Hitzewellen, Dürre und entsetzliche Feuersbrünste nie da gewesenen Ausmaßes in Italien, in der Türkei, in Griechenland, auf dem Balkan und in Kalifornien.

Ohnehin ist für unsere Lebenspraxis heute und in nächster Zukunft die maßgebliche Frage ja nicht, ob es ein vergleichbares Extremwetter in den zurückliegenden Jahrzehnten oder Jahrhunderten schon mal gab. Wahrscheinlich ist fast jedes heutige Wetterphänomen irgendwann irgendwo in den vergangenen 2000 Jahren bereits mal aufgetreten. Die für unser aller Leben sowie Politik und Wirtschaft entscheidende Frage lautet vielmehr: In welcher Dichte und Stärke brechen derartige Ereignisse jetzt und künftighin lokal, regional, kontinental über uns herein – und welche globalen Entwicklungen treiben sie an? Da sind wir dann beim Klimawandel, der die aktuelle Zivilisation allerorten mal mit Fluten, mal mit Hitze und Dürren, mal mit gewaltigen Feuersbrünsten oder extremen Stürmen heimsucht – und das in wissenschaftlich messbar, statistisch erfassbar, inzwischen auch für aufmerksame Laien sicht- und spürbar zunehmender Häufigkeit. Und der neue Globalbericht des Weltklimarates legt den zwingenden Schluss nahe: Der Klimawandel entwickelt sich schneller und kommt schon jetzt härter als vordem angenommen.

Aus Ahnungen werden Gewissheiten

So ziehen denn mit der Erschütterung über die aktuelle Flutkatastrophe und vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Klimaprognosen verstärkt Ahnungen, Befürchtungen, Gewissheiten ins Bewusstsein der Allgemeinheit ein, dass das Leben auch bis in den privaten Alltag hinein nicht so bleiben wird, gar nicht so bleiben kann, wie wir es gewohnt sind. Dies just in einem Moment, da man glaubt und hofft, den Ausnahmezustand der Corona-Zeiten bald überwunden zu haben.

Jener Zeiten also, in denen unzählige vertraute Mechanismen des privaten, beruflichen, öffentlichen, kulturellen Lebens außer Kraft gesetzt waren. In denen sie ersetzt waren, in minderen Teilen noch sind durch – häufig wechselnde, oft unübersichtliche, bisweilen wenig schlüssige – Seuchenschutzreglements. Diese haben den meisten Zeitgenossen fremde Verhaltensweisen, teils grundstürzende Veränderungen ihrer üblichen Lebensart abverlangt und obendrein viele Hunderttausend Mitbürger in Sorgen, Not und Verzweiflung hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Existenz gestürzt.

Und noch ist die dafür verantwortliche Corona-Pandemie nicht vorüber. Zwar sehen laut jüngeren Umfragen etwa 56 Prozent der Deutschen für sich persönlich kein allzu hohes Infektionsrisiko mehr, gleichwohl rechnen 67 Prozent alsbald mit einer vierten Seuchenwelle. Für Wissenschaftler und Mediziner lautet die Frage ohnehin nicht, ob im Herbst die nächste Welle kommt, sondern: Wie stark wird sie – nicht zuletzt bei den ungeimpften Kindern und Jugendlichen? Angesichts solch anhaltender Gefahrenpotenziale in der Corona-Sache wundert es nicht, dass sich zuletzt drei Viertel der Befragten gegen die Aufhebung der Maskenpflicht zum jetzigen Zeitpunkt aussprechen. Zumal bis dato selbst rund 40 Prozent der Erwachsenen im Land noch gar keinen oder keinen vollständigen Impfschutz haben.

Die Wahlkampfstrategen – vor allem der noch in Regierungsverantwortung stehenden Parteien – sehen sich mit einer kaum berechenbaren Lage konfrontiert. Die Menschen im Land sind allesamt der Corona-Krise überdrüssig, sind weithin erschöpft vom Leben im Ausnahmezustand sowie den endlosen, vielfach bis in Freundes- und Familienkreise hinein gereizten, giftigen oder unversöhnlichen Diskussionen und Streitereien um die richtige Haltung zur Seuche und den sinnvollsten Weg hindurch. Ein wesentliches Problem nicht nur der Parteien dabei ist, dass diesem allgemeinen Sehnen nach Rückkehr zum normalen Leben mannigfach unterschiedliche bis völlig gegensätzliche Auffassungen zum rechten Umgang mit der Pandemie zugrunde liegen.

Schier unversöhnliche Gegensätze

Die beiden – vielfach verzweigten, sich teils sogar überschneidenden – Hauptströmungen sind, ganz grob skizziert: einerseits das Setzen oberster Priorität für den Lebens- und Gesundheitsschutz sowie das Plädoyer für geduldige, vorsichtige Öffnungen in Abhängigkeit von einem sehr stark zurückgedrängten Infektionsgeschehen, andererseits das aus diversen Gründen gespeiste Drängen auf möglichst schnelle und weitreichende Öffnungen. Letzteres ist, um einer zügigen Wiedererringung der Normalität willen, bisweilen bereit, der Gesellschaft auch manches neulich noch undenkbare Risiko beim Seuchengeschehen zuzumuten. Die oft heftigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Verhaltens zur Pandemie von der staatlichen Corona-Politik bis hinunter zum einzelnen Bürger erwuchsen vielfach daraus, dass die Menschen die Pandemie auf sehr unterschiedliche Weise erleben und davon betroffen sind.

Beinahe erstaunlich sind dennoch die bei Umfragen von Anfang an stets hohen Zustimmungswerte zum Prinzip der Seuchenbekämpfung. Jeweils gut zwei Drittel bis vier Fünftel der Befragten fanden seit Frühjahr 2020 die Corona-Maßnahmen des Staates „genau richtig“ oder sprachen sich für eine noch schärfere Schutzpolitik aus. Vor diesem Hintergrund sei eine dritte Strömung als eher kleines Randphänomen kurz erwähnt, das freilich sehr lautstark und aggressiv in Erscheinung getreten ist: jene Leute, die wie die selbst ernannten „Querdenker“ die Corona-Seuche für eine Belanglosigkeit, gar eine Erfindung halten, den Seuchenschutz hingegen für unangemessene Freiheitsberaubung respektive ein staatliches Unterdrückungsinstrumentarium.

Nicht nur für die Parteistrategen wäre es ein Albtraum, würde wenige Wochen vor der Wahl Deutschland von einer Pandemielage heimgesucht, wie sie sich derzeit in etlichen Ländern weltweit wieder andeutet: Viel zu früh geöffnet, und rasend schnell geht, wuchtig angetrieben von der Delta-Variante, das Infektionsgeschehen wieder durch die Decke. Die große Hoffnung auf das schöne Gefühl von der überwundenen Pandemie wäre auch hierzulande perdu. Und fast egal, was die noch amtierende Regierungskoalition dann gegen eine mit Macht wieder aufflammende Seuche unternähme oder auch nicht: Bei den Anhängern einer der besagten Strömungen könnte das die Parteien Stimmen in unkalkulierbarer Größenordnung kosten. Frust, Zorn, Gesundheits- und/oder Existenzangst, Überdruss, Erschöpfung, Verständnislosigkeit in die eine oder in die andere Richtung – dieser Stimmungscocktail im Volk birgt jede Menge Unberechenbarkeit.

Eigentlich, ja eigentlich hätte das Gros der Bevölkerung jetzt wohl gern eine Phase ruhigeren Lebens wieder in den vertrauten Bahnen der Vor-Corona-Zeit. Doch den meisten schwant: Das wird nichts mit der Ruhe. Denn die Pandemie hat eine Vielzahl von strukturellen Schwächen in Deutschland gnadenlos zutage treten lassen: keine in großen Notstandlagen aus dem Stand mobilisierbaren sachlichen Reserven mehr; Personalmangel in der Pflege, bei den Gesundheitsämtern, den Ordnungsämtern, der Polizei, in Kitas und Schulen; labile und einseitig ausgerichtete Lieferketten bei der Industrie; die Digitalisierung von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft weit im Rückstand und schwach auf der Brust ... Weil mehr als vier Jahrzehnte Sparpolitik, Rationalisierung und Privatisierung quasi Staatsräson waren, ist Deutschland strukturell weithin auf Kante genäht – großräumige Krisen oder schwere Katastrophen waren einfach nicht mehr vorgesehen. Weshalb es inzwischen jede Menge drängenden und teuren Nachhol-, Umbau-, Neuerungsbedarf gibt, im Großen wie im Kleinen.

Keine Entspannungsphase

Jetzt obendrein die Brutalitäten der Flutkatastrophe, die den großen Wandel unserer Lebensart im Zuge des notwendigen Klimaschutzes befeuern wird, ja muss – allen Streit um das Wann und Wie inklusive. Hinzu kommt aktuell die unausweichlich gewordene Dringlichkeit für Bund, Länder und jedwede Gemeinde, mit höchster Priorität neue Konzepte zum Schutz vor extremen Hochwassern und Sturzfluten zu entwickeln und vor allem zügig umzusetzen. Auch wenn gegen eine Flut der soeben an der Ahr erlittenen Dimension und Gewalt wohl keine noch so guten Flutschutzbauten völlig wappnen, so könnten sie das Ausmaß der Opfer und Schäden doch abmildern. Sollten Klimaschutz und Anpassung an die absehbar weiter zunehmenden Katastrophenpotenziale unterschiedlicher Art indes nicht hinreichend angepackt werden, würden womöglich nicht nur Gebiete in Afrika, Asien, Australien oder der Südsee in baldiger Zukunft unbewohnbar sein, sondern ebenso Tal- und andere Gefährdungslagen in Mitteleuropa.

Kurzum: Es wird keine Entspannungsphase geben. Wie die meisten anderen Länder auch wird Deutschland von noch nicht beendeten Ausnahmezuständen direkt in eine Phase sehr großer Umwälzungen und Umbrüche eintreten müssen, die das große Ganze ebenso betreffen, wie sie sich auf die kleine private Lebenshaltung auswirken. Die einen wird es beunruhigen, andere gleichgültig lassen, wieder andere erfreuen: In eben dieser virulenten Lage geht nach einer gefühlt halben Ewigkeit im Amt auch noch die Bundeskanzlerin von Bord. Man mochte Angela Merkel, ihre Politik und die recht eigene Art, sie zu machen – oder halt nicht. Jedenfalls war sie 16 Jahre lang, meist, eine berechenbare Größe. Wie Armin Laschet, Olaf Scholz oder Annalena Baerbock das Amt füllen würden, weiß indes noch niemand.

Zu aller Unruhe, allem Leid, allen Zumutungen eines unausweichlichen, doch so schwierigen Wandels kommt nun auch noch diese Unsicherheit. Wie Land und Wahlvolk sich bis zum 26. September aufstellen, darauf möchte man ungern eine Wette abschließen. Die Kandidaten gehen derzeit auf Eierschalen, bei jeder Veränderung der Großlagen Corona-Pandemie, Sturzfluthilfe und Folgediskussion oder Klimaschutzpolitik könnten sie sich falsch verhalten und einbrechen – oder beispielhaft agieren und ordentlich Ansehen gewinnen.