Ob als Funktionär im Verband oder als Aktiver auf der Strecke – die Off-Season war stets ein kurzes Vergnügen für ihn. Künftig wird sie jedoch ein Dauerzustand sein: Ein kaum noch für möglich gehaltenes Happy End soll der letzte Akt in der Laufbahn des 60-Jährigen gewesen sein.
Das Kapitel Leistungssport war für Wolfgang Becker eigentlich schon im Jahr 2012 abgehakt. „Der Körper hat signalisiert: Er will nicht mehr“, erzählt er. Verletzungen und Erkrankungen wie ein Innenbandeinriss, ein Kreuzbandriss oder Pfeiffersches Drüsenfieber beschäftigten den Athleten, der 1991 zum Triathlon gekommen war, zu dieser Zeit weitaus mehr als die Umsetzung eines normalen Trainingsplans. Als Ende 2017 aufgrund von Herzrhythmusstörungen auch noch eine Ablation am Herzen durchgeführt werden musste, platzte das letzte Fünkchen Hoffnung auf ein Comeback.
So richtig im Reinen war der zweifache Hawaii-Finisher aber nie mit dieser Form des Laufbahnendes, schließlich hatte das „körperliche Befinden das Ende des Triathlonsports vorgegeben und nicht der Athlet selbst“, wie er berichtet. Dabei sei es doch Wunschdenken eines jeden Sportlers, dann aufzuhören, wenn es am schönsten ist. Und nicht dann, wenn der Körper es verlangt. „2019 habe ich gemerkt, dass ich mit der Sache noch nicht abgeschlossen habe“, sagt Becker. Als er seinen Kollegen Dennis Manns von der RSG Montabaur, an den er als Trainer viele seiner Erfahrungen weitergibt, ins fränkische Triathlon-Mekka Roth begleitete, spürte der Kemmenauer sofort wieder diese besondere Atmosphäre und vor allem den Reiz, den diese noch auf ihn ausübt. „Die Erinnerungen sind sofort wieder hochgekommen“, so Becker.
Ein neues Ziel war definiert: Dort, wo im Jahre 1997 mit der ersten Langdistanzteilnahme alles begonnen hatte, wollte er noch einmal finishen und dabei „das Erlebte aufzusaugen und für mich selber und meine Betreuer am Wegesrand ein positives sportliches Finale erreichen“, wie er erzählt. „Also begann im Spätherbst 2019 das akribisch vorbereitete Unternehmen Langdistanz Roth 2021.“ Im Jahr des 60. Geburtstags und 30 Jahre nach dem Einstieg in den Triathlonsport sollte ein würdiger Abschluss gefunden werden.
Im Hinterkopf habe er aber immer den Gedanken gehabt, dass auch die körperlichen Voraussetzungen dieses Unterfangen zulassen müssen, betont Becker. Was keiner zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte: Corona machte allen Athleten 2020 und in weiten Teilen auch noch 2021 einen dicken Strich durch so manche Rechnung. Keine Wettkämpfe im ersten Jahr der Pandemie, ein halbes Jahr kein Schwimmtraining im Wasser – all dies waren keine guten Vorbereitungsparameter.
Also mussten Alternativen her. Wo Laufen und Radfahren auch in den harten Lockdown-Phasen kein Problem darstellten, bereitete das Schwimmen mehr Sorgen. „Da hat mir vielleicht geholfen, dass ich früher sehr intensiv geschwommen bin“, erzählt Becker. „In dieser Zeit habe ich auch viel Technik gelernt, das vergisst der Körper nicht.“ Diese Erfahrung, Übungen am Seilzug „bis zum Exzess“ und erste Trainingseinheiten in der Mosel bei 14 Grad Wassertemperatur ließen den Glauben an einen Start bei der Challenge Roth weiterleben. „Auch wenn es kalt war, habe ich gemerkt: Es geht.“ Was blieb, war die Ungewissheit. „Lediglich ein einziger Wettkampf als Orientierung – und dies auch nur als Sprint – konnte im Vorfeld absolviert werden“, blickt Becker zurück. Auch fehlten vor allem beim Schwimmen etliche Kilometer.
Entsprechend groß seien Anspannung und Nervosität in der Rennwoche gewesen. „Wie ein Rennpferd vor dem Start“, beschreibt Becker, wie er sich fühlte. „Doch mit dem Startschuss kehrte eine nie für möglich gehaltene innere Ruhe ein“, sagt er rückblickend. „Ich wusste, es kann gar nichts mehr passieren.“ Diese Gelassenheit trug den erfahrenen Triathleten durch seinen finalen Wettkampf. Das 3,8 Kilometer lange Schwimmen hakte er in guten 64 Minuten ab, nur sieben Minuten langsamer als bei seiner Schwimmbestzeit aus dem Jahr 2012 – und das bei dieser Vorbereitung.
Die Radstrecke, die aufgrund diverser Baustellen und auch wegen Corona auf 170 Kilometer reduziert war, sei er wie in seiner ganzen Triathlonzeit „solide, jedoch mit großer Wehmut“ gefahren. Da fehlte zum Abschluss des ganzen Spektakels, das Roth trotz der Kontaktbeschränkungen, trotz großer Hygieneauflagen, trotz des Verbots von Massenansammlungen gewesen sei, noch der Marathon mit der berüchtigten Steigung nach Büchenbach. „Irgendwann gehen auch dem erfahrensten Triathleten bei heißen Temperaturen die Gründe aus, sich auf diese Laufstrecke zu freuen“, gesteht Becker.
Ab Kilometer 23 habe er die verbleibenden Kilometer rückwärts gezählt. „Irgendwann ist dann der Wendepunkt in Büchenbach erreicht, und es geht wieder hinunter nach Roth mit den letzten beiden Kilometern bis zum Ziel“, lässt er das Erlebte Revue passieren. „Alles wird noch einmal mobilisiert, denn jeder Athlet möchte ja mit einem guten Eindruck in das Corona-bedingt leider nur halb gefüllte Stadion einlaufen. Irgendwann sind die letzten Hände abgeklatscht, die letzten ,Danke für alles'-Worte gesprochen und die Finishline vor Augen. Es schießen die Tränen ins Auge, angesichts der inneren Freude und Zufriedenheit, das große Ziel erreicht zu haben.“
Das Happy End war da, das letzte Kapitel der Triathlonlaufbahn des Wolfgang Becker geschrieben. Doch am folgenden Tag gab es einen erfreulichen Nachschlag: Nach Auswertung aller Ergebnisse stand fest, dass der Kemmenauer, der für die RSG Montabaur startet, seine Altersklasse 60 mit 25 Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten gewonnen hat und sich so Deutscher Meister AK 60 nennen darf. „Beides kam unerwartet, total überraschend, denn an dieses Szenario hatte ich im Vorfeld nie einen Gedanke verschwendet“, ist er glücklich.
Die beiden Titel seien das „Tüpfelchen auf dem i“ nach einer langen Reise durch drei Jahrzehnte im Zeichen des Triathlonsports. Für 3,8 Kilometer Schwimmen, 170 Kilometer Radfahren und 42,195 Kilometer Laufen benötigte der heute 60-Jährige 10:17:10 Stunden. Seitdem hat Off-Season für ihn eine ganz neue Bedeutung.